Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.um den Ausdruck der Trauer und Wehmuth dieser ganzen wunderlichen Gestalt zu vervollständigen. Plötzlich griff er wieder nach dem Strohhut mit dem himmelblauen Bande, stülpte ihn auf die blonden Locken, so daß diese mit dem Hute jetzt aus demselben Stoffe zu sein schienen, und reichte der Frau Conrectorin mit tiefstem, innigstem Gemüthsausdruck die Hand, ohne weiter ein Wort vorbringen zu können. Dann schritt er träumerisch davon. Das Billet zu Romeo und Julia, welches er vorher in der Zerstreuung aus der Tasche gezogen, blieb auf dem Tische liegen. Lange sah die Frau Conrectorin von dem Fenster des Gartenhäuschens dem wunderlichen Vetter nach, und sie bemerkte trotz der Dämmerung recht gut, daß er mehrmal stehen blieb und sich umsah; auf der Brücke verweilte er eine gute Viertelstunde, zog sein Opernglas wieder hervor und starrte nach dem Hofgut: ein moderner Toggenburg in den Anblick des Klosters verloren, der sein Idol, sein Theuerstes umschloß. Ein spöttischer Zug umspielte die Lippen der Frau Conrectorin, als sie endlich das Gartenhaus verließ. -- Aha, hab' ich dich endlich so weit? sagte sie vor sich hin, indem sie das Strickzeug zusammenräumte und das Kaffeegeschirr durch den Garten trug, wo die Sommerlevkoyen dufteten -- endlich so weit und doch noch lange nicht am Ziele; diesem blöden Schäfer gilt immer nur das Unerreichbare, das Verbotene, das Tragische, Alles sonst hat kein Interesse für ihn. Natürlich, bei seinem um den Ausdruck der Trauer und Wehmuth dieser ganzen wunderlichen Gestalt zu vervollständigen. Plötzlich griff er wieder nach dem Strohhut mit dem himmelblauen Bande, stülpte ihn auf die blonden Locken, so daß diese mit dem Hute jetzt aus demselben Stoffe zu sein schienen, und reichte der Frau Conrectorin mit tiefstem, innigstem Gemüthsausdruck die Hand, ohne weiter ein Wort vorbringen zu können. Dann schritt er träumerisch davon. Das Billet zu Romeo und Julia, welches er vorher in der Zerstreuung aus der Tasche gezogen, blieb auf dem Tische liegen. Lange sah die Frau Conrectorin von dem Fenster des Gartenhäuschens dem wunderlichen Vetter nach, und sie bemerkte trotz der Dämmerung recht gut, daß er mehrmal stehen blieb und sich umsah; auf der Brücke verweilte er eine gute Viertelstunde, zog sein Opernglas wieder hervor und starrte nach dem Hofgut: ein moderner Toggenburg in den Anblick des Klosters verloren, der sein Idol, sein Theuerstes umschloß. Ein spöttischer Zug umspielte die Lippen der Frau Conrectorin, als sie endlich das Gartenhaus verließ. — Aha, hab' ich dich endlich so weit? sagte sie vor sich hin, indem sie das Strickzeug zusammenräumte und das Kaffeegeschirr durch den Garten trug, wo die Sommerlevkoyen dufteten — endlich so weit und doch noch lange nicht am Ziele; diesem blöden Schäfer gilt immer nur das Unerreichbare, das Verbotene, das Tragische, Alles sonst hat kein Interesse für ihn. Natürlich, bei seinem <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0039"/> um den Ausdruck der Trauer und Wehmuth dieser ganzen wunderlichen Gestalt zu vervollständigen.</p><lb/> <p>Plötzlich griff er wieder nach dem Strohhut mit dem himmelblauen Bande, stülpte ihn auf die blonden Locken, so daß diese mit dem Hute jetzt aus demselben Stoffe zu sein schienen, und reichte der Frau Conrectorin mit tiefstem, innigstem Gemüthsausdruck die Hand, ohne weiter ein Wort vorbringen zu können.</p><lb/> <p>Dann schritt er träumerisch davon. Das Billet zu Romeo und Julia, welches er vorher in der Zerstreuung aus der Tasche gezogen, blieb auf dem Tische liegen.</p><lb/> <p>Lange sah die Frau Conrectorin von dem Fenster des Gartenhäuschens dem wunderlichen Vetter nach, und sie bemerkte trotz der Dämmerung recht gut, daß er mehrmal stehen blieb und sich umsah; auf der Brücke verweilte er eine gute Viertelstunde, zog sein Opernglas wieder hervor und starrte nach dem Hofgut: ein moderner Toggenburg in den Anblick des Klosters verloren, der sein Idol, sein Theuerstes umschloß.</p><lb/> <p>Ein spöttischer Zug umspielte die Lippen der Frau Conrectorin, als sie endlich das Gartenhaus verließ. — Aha, hab' ich dich endlich so weit? sagte sie vor sich hin, indem sie das Strickzeug zusammenräumte und das Kaffeegeschirr durch den Garten trug, wo die Sommerlevkoyen dufteten — endlich so weit und doch noch lange nicht am Ziele; diesem blöden Schäfer gilt immer nur das Unerreichbare, das Verbotene, das Tragische, Alles sonst hat kein Interesse für ihn. Natürlich, bei seinem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0039]
um den Ausdruck der Trauer und Wehmuth dieser ganzen wunderlichen Gestalt zu vervollständigen.
Plötzlich griff er wieder nach dem Strohhut mit dem himmelblauen Bande, stülpte ihn auf die blonden Locken, so daß diese mit dem Hute jetzt aus demselben Stoffe zu sein schienen, und reichte der Frau Conrectorin mit tiefstem, innigstem Gemüthsausdruck die Hand, ohne weiter ein Wort vorbringen zu können.
Dann schritt er träumerisch davon. Das Billet zu Romeo und Julia, welches er vorher in der Zerstreuung aus der Tasche gezogen, blieb auf dem Tische liegen.
Lange sah die Frau Conrectorin von dem Fenster des Gartenhäuschens dem wunderlichen Vetter nach, und sie bemerkte trotz der Dämmerung recht gut, daß er mehrmal stehen blieb und sich umsah; auf der Brücke verweilte er eine gute Viertelstunde, zog sein Opernglas wieder hervor und starrte nach dem Hofgut: ein moderner Toggenburg in den Anblick des Klosters verloren, der sein Idol, sein Theuerstes umschloß.
Ein spöttischer Zug umspielte die Lippen der Frau Conrectorin, als sie endlich das Gartenhaus verließ. — Aha, hab' ich dich endlich so weit? sagte sie vor sich hin, indem sie das Strickzeug zusammenräumte und das Kaffeegeschirr durch den Garten trug, wo die Sommerlevkoyen dufteten — endlich so weit und doch noch lange nicht am Ziele; diesem blöden Schäfer gilt immer nur das Unerreichbare, das Verbotene, das Tragische, Alles sonst hat kein Interesse für ihn. Natürlich, bei seinem
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/39>, abgerufen am 16.07.2024. |