Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Wie war sie überrascht, als sie eine junge Dame an der Seite eines uralten, gichtbrüchigen Mannes vorübergehen sah. Die junge Dame, welche von Kopf zu Fuß in schwarze Seide und schwarze Spitzen gekleidet war, sah noch einmal um. Das kleine Köpfchen mit den großen, glutvollen Augen und dem reichen, phantastisch coeffirten Haar hatte einen südlichen, man könnte sagen andalusischen Typus. Damit stimmte auch der schwarze Schleier, den sie um den Kopf trug, und der Schmuck der Rosen und Jasminblüten, welche die einzige natürliche Zierde des Haares bildeten. Aha, deßhalb also? sagte die Frau Conrectorin und legte ihren Strickstrumpf hin, um sich wieder zu Vetter Isidor zu wenden. Dieser aber stand bereits neben ihr, mit seiner großen, knochigen Hand ihren Arm berührend. Ich beschwöre Sie, Frau Conrectorin, wer ist dieses Wesen? Die also, Vetter Isidörchen, Die also! -- und Frau Conrectorin lachte heimlich vor sich hin. -- Nein, liebes Vetterchen -- da lassen Sie sich nur alle Pläne und Gedanken vergehen, das ist nichts für Sie, das ist wirklich unerreichbar! Aber Vetter Isidor stützte sich mit beiden Fäusten auf den Griff seines Regenschirmes und sagte nicht ohne alle Würde: Ich muß Ihnen bemerken, meine verehrte Frau Conrectorin, daß Sie mich noch nicht ganz kennen dürften. Wenn ich einmal meinen Willen auf etwas richte, Wie war sie überrascht, als sie eine junge Dame an der Seite eines uralten, gichtbrüchigen Mannes vorübergehen sah. Die junge Dame, welche von Kopf zu Fuß in schwarze Seide und schwarze Spitzen gekleidet war, sah noch einmal um. Das kleine Köpfchen mit den großen, glutvollen Augen und dem reichen, phantastisch coeffirten Haar hatte einen südlichen, man könnte sagen andalusischen Typus. Damit stimmte auch der schwarze Schleier, den sie um den Kopf trug, und der Schmuck der Rosen und Jasminblüten, welche die einzige natürliche Zierde des Haares bildeten. Aha, deßhalb also? sagte die Frau Conrectorin und legte ihren Strickstrumpf hin, um sich wieder zu Vetter Isidor zu wenden. Dieser aber stand bereits neben ihr, mit seiner großen, knochigen Hand ihren Arm berührend. Ich beschwöre Sie, Frau Conrectorin, wer ist dieses Wesen? Die also, Vetter Isidörchen, Die also! — und Frau Conrectorin lachte heimlich vor sich hin. — Nein, liebes Vetterchen — da lassen Sie sich nur alle Pläne und Gedanken vergehen, das ist nichts für Sie, das ist wirklich unerreichbar! Aber Vetter Isidor stützte sich mit beiden Fäusten auf den Griff seines Regenschirmes und sagte nicht ohne alle Würde: Ich muß Ihnen bemerken, meine verehrte Frau Conrectorin, daß Sie mich noch nicht ganz kennen dürften. Wenn ich einmal meinen Willen auf etwas richte, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0014"/> Wie war sie überrascht, als sie eine junge Dame an der Seite eines uralten, gichtbrüchigen Mannes vorübergehen sah. Die junge Dame, welche von Kopf zu Fuß in schwarze Seide und schwarze Spitzen gekleidet war, sah noch einmal um. Das kleine Köpfchen mit den großen, glutvollen Augen und dem reichen, phantastisch coeffirten Haar hatte einen südlichen, man könnte sagen andalusischen Typus. Damit stimmte auch der schwarze Schleier, den sie um den Kopf trug, und der Schmuck der Rosen und Jasminblüten, welche die einzige natürliche Zierde des Haares bildeten.</p><lb/> <p>Aha, deßhalb also? sagte die Frau Conrectorin und legte ihren Strickstrumpf hin, um sich wieder zu Vetter Isidor zu wenden.</p><lb/> <p>Dieser aber stand bereits neben ihr, mit seiner großen, knochigen Hand ihren Arm berührend.</p><lb/> <p>Ich beschwöre Sie, Frau Conrectorin, wer ist dieses Wesen?</p><lb/> <p>Die also, Vetter Isidörchen, Die also! — und Frau Conrectorin lachte heimlich vor sich hin. — Nein, liebes Vetterchen — da lassen Sie sich nur alle Pläne und Gedanken vergehen, das ist nichts für Sie, das ist wirklich unerreichbar!</p><lb/> <p>Aber Vetter Isidor stützte sich mit beiden Fäusten auf den Griff seines Regenschirmes und sagte nicht ohne alle Würde:</p><lb/> <p>Ich muß Ihnen bemerken, meine verehrte Frau Conrectorin, daß Sie mich noch nicht ganz kennen dürften. Wenn ich einmal meinen Willen auf etwas richte,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0014]
Wie war sie überrascht, als sie eine junge Dame an der Seite eines uralten, gichtbrüchigen Mannes vorübergehen sah. Die junge Dame, welche von Kopf zu Fuß in schwarze Seide und schwarze Spitzen gekleidet war, sah noch einmal um. Das kleine Köpfchen mit den großen, glutvollen Augen und dem reichen, phantastisch coeffirten Haar hatte einen südlichen, man könnte sagen andalusischen Typus. Damit stimmte auch der schwarze Schleier, den sie um den Kopf trug, und der Schmuck der Rosen und Jasminblüten, welche die einzige natürliche Zierde des Haares bildeten.
Aha, deßhalb also? sagte die Frau Conrectorin und legte ihren Strickstrumpf hin, um sich wieder zu Vetter Isidor zu wenden.
Dieser aber stand bereits neben ihr, mit seiner großen, knochigen Hand ihren Arm berührend.
Ich beschwöre Sie, Frau Conrectorin, wer ist dieses Wesen?
Die also, Vetter Isidörchen, Die also! — und Frau Conrectorin lachte heimlich vor sich hin. — Nein, liebes Vetterchen — da lassen Sie sich nur alle Pläne und Gedanken vergehen, das ist nichts für Sie, das ist wirklich unerreichbar!
Aber Vetter Isidor stützte sich mit beiden Fäusten auf den Griff seines Regenschirmes und sagte nicht ohne alle Würde:
Ich muß Ihnen bemerken, meine verehrte Frau Conrectorin, daß Sie mich noch nicht ganz kennen dürften. Wenn ich einmal meinen Willen auf etwas richte,
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Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
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