Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.kein Gleichniß, als das des Vogelsangs, ihren überreichen, nie und Minnes. denkt aber der Dichter nicht, wozu gerade der Ort gewesen wäre, ja er nennt die Nachtigall von der Vogelweide selber eine Meisterinne (v. 4680.), wenn auch im allgemeinen Sinn, der aber hier, falls jener Unterschied Statt gesunden, selbst vermieden worden wäre. 29) Ich fühle es wohl, darin muß etwas gegen meine Ansicht lie-
gen, daß man sich die Unschuld dieser Poesie mit der Kunst nicht zusammen denken mag. Ohne zu wissen oder selbst zu glauben, daß Tiek meine Vorstellung billigt, kann ich mich hier nicht besser schützen, als mit dessen eigenen Worten: "so viel Kunst und strenge Schule auch so manche Gedichte dieser Zeit verrathen, so möchte man doch diese Poesie nicht Kunst nen- nen; sie ist gelernt, aber nicht um gelehrt zu erscheinen, die Mei- sterschaft verbirgt sich in der Unschuld und Liebe, der Poet ist unbesorgt um das Interesse, daher bleibt er in aller Künstlich- keit so einfältig und naiv, er sucht seinen Gegenstand lieber durch eine neue Anordnung der Reime, als durch neue und auf- fallende Gedanken hervorzuheben." kein Gleichniß, als das des Vogelſangs, ihren uͤberreichen, nie und Minneſ. denkt aber der Dichter nicht, wozu gerade der Ort geweſen waͤre, ja er nennt die Nachtigall von der Vogelweide ſelber eine Meiſterinne (v. 4680.), wenn auch im allgemeinen Sinn, der aber hier, falls jener Unterſchied Statt geſunden, ſelbſt vermieden worden waͤre. 29) Ich fuͤhle es wohl, darin muß etwas gegen meine Anſicht lie-
gen, daß man ſich die Unſchuld dieſer Poeſie mit der Kunſt nicht zuſammen denken mag. Ohne zu wiſſen oder ſelbſt zu glauben, daß Tiek meine Vorſtellung billigt, kann ich mich hier nicht beſſer ſchuͤtzen, als mit deſſen eigenen Worten: „ſo viel Kunſt und ſtrenge Schule auch ſo manche Gedichte dieſer Zeit verrathen, ſo moͤchte man doch dieſe Poeſie nicht Kunſt nen- nen; ſie iſt gelernt, aber nicht um gelehrt zu erſcheinen, die Mei- ſterſchaft verbirgt ſich in der Unſchuld und Liebe, der Poet iſt unbeſorgt um das Intereſſe, daher bleibt er in aller Kuͤnſtlich- keit ſo einfaͤltig und naiv, er ſucht ſeinen Gegenſtand lieber durch eine neue Anordnung der Reime, als durch neue und auf- fallende Gedanken hervorzuheben.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0048" n="38"/> kein Gleichniß, als das des Vogelſangs, ihren uͤberreichen, nie<lb/> zu erfaſſenden Ton treffender ausdruͤcken, in welchem jeden<lb/> Augenblick die alten Schlaͤge in immer neuer Modulation wie-<lb/> derkommen. An der jugendlichen friſchen Minnepoeſie hat alle<lb/> Kunſt ein Anſehen der Natuͤrlichkeit gewonnen, und ſie iſt auf<lb/> gewiſſe Weiſe auch nur natuͤrlich <note place="foot" n="29)">Ich fuͤhle es wohl, darin muß etwas gegen meine Anſicht lie-<lb/> gen, daß man ſich die Unſchuld dieſer Poeſie mit der Kunſt<lb/> nicht zuſammen denken mag. Ohne zu wiſſen oder ſelbſt zu<lb/> glauben, daß <hi rendition="#g">Tiek</hi> meine Vorſtellung billigt, kann ich mich hier<lb/> nicht beſſer ſchuͤtzen, als mit deſſen eigenen Worten: „ſo viel<lb/> Kunſt und ſtrenge Schule auch ſo manche Gedichte dieſer Zeit<lb/> verrathen, ſo moͤchte man doch dieſe Poeſie nicht Kunſt nen-<lb/> nen; ſie iſt gelernt, aber nicht um gelehrt zu erſcheinen, die Mei-<lb/> ſterſchaft verbirgt ſich in der Unſchuld und Liebe, der Poet iſt<lb/> unbeſorgt um das Intereſſe, daher bleibt er in aller Kuͤnſtlich-<lb/> keit ſo einfaͤltig und naiv, er ſucht ſeinen Gegenſtand lieber<lb/> durch eine neue Anordnung der Reime, als durch neue und auf-<lb/> fallende Gedanken hervorzuheben.“</note>; nie hat vorher, noch<lb/> nachher, eine ſo unſchuldige, liebevolle, ungeheuchelte Poeſie<lb/> die Bruſt des Menſchen verlaſſen, um den Boden der Welt zu<lb/> betreten, und man darf in Wahrheit ſagen, daß von keinem<lb/> dichtenden Volk die geheimnißvolle Natur des Reims in ſolcher<lb/> Maße erkannt und ſo offenbar gebraucht worden. Allein wir<lb/> ahnen voraus, wie das poetiſche Leben, das ſich zarter Kind-<lb/> lichkeit aufgethan, auf einmal falſch verſtanden und die goͤtt-<lb/> liche Blume den abgoͤtternden Haͤnden ihren Kelch der reichſten<lb/> Farben zuſchließend, nur die Außenſeite uͤbrig laſſen werde,<lb/> die gleiche Geſtalt hat, aber bleich iſt. So ſtreift der hoͤchſte<lb/> Gipfel des lebendigen Spiels ſchon mit einigen Zuͤgen in ſtille<lb/><note xml:id="seg2pn_2_2" prev="#seg2pn_2_1" place="foot" n="28)">und Minneſ. denkt aber der Dichter nicht, wozu gerade der Ort<lb/> geweſen waͤre, ja er nennt die Nachtigall von der Vogelweide<lb/> ſelber eine Meiſterinne (v. 4680.), wenn auch im allgemeinen<lb/> Sinn, der aber hier, falls jener Unterſchied Statt geſunden,<lb/> ſelbſt vermieden worden waͤre.</note><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [38/0048]
kein Gleichniß, als das des Vogelſangs, ihren uͤberreichen, nie
zu erfaſſenden Ton treffender ausdruͤcken, in welchem jeden
Augenblick die alten Schlaͤge in immer neuer Modulation wie-
derkommen. An der jugendlichen friſchen Minnepoeſie hat alle
Kunſt ein Anſehen der Natuͤrlichkeit gewonnen, und ſie iſt auf
gewiſſe Weiſe auch nur natuͤrlich 29); nie hat vorher, noch
nachher, eine ſo unſchuldige, liebevolle, ungeheuchelte Poeſie
die Bruſt des Menſchen verlaſſen, um den Boden der Welt zu
betreten, und man darf in Wahrheit ſagen, daß von keinem
dichtenden Volk die geheimnißvolle Natur des Reims in ſolcher
Maße erkannt und ſo offenbar gebraucht worden. Allein wir
ahnen voraus, wie das poetiſche Leben, das ſich zarter Kind-
lichkeit aufgethan, auf einmal falſch verſtanden und die goͤtt-
liche Blume den abgoͤtternden Haͤnden ihren Kelch der reichſten
Farben zuſchließend, nur die Außenſeite uͤbrig laſſen werde,
die gleiche Geſtalt hat, aber bleich iſt. So ſtreift der hoͤchſte
Gipfel des lebendigen Spiels ſchon mit einigen Zuͤgen in ſtille
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29) Ich fuͤhle es wohl, darin muß etwas gegen meine Anſicht lie-
gen, daß man ſich die Unſchuld dieſer Poeſie mit der Kunſt
nicht zuſammen denken mag. Ohne zu wiſſen oder ſelbſt zu
glauben, daß Tiek meine Vorſtellung billigt, kann ich mich hier
nicht beſſer ſchuͤtzen, als mit deſſen eigenen Worten: „ſo viel
Kunſt und ſtrenge Schule auch ſo manche Gedichte dieſer Zeit
verrathen, ſo moͤchte man doch dieſe Poeſie nicht Kunſt nen-
nen; ſie iſt gelernt, aber nicht um gelehrt zu erſcheinen, die Mei-
ſterſchaft verbirgt ſich in der Unſchuld und Liebe, der Poet iſt
unbeſorgt um das Intereſſe, daher bleibt er in aller Kuͤnſtlich-
keit ſo einfaͤltig und naiv, er ſucht ſeinen Gegenſtand lieber
durch eine neue Anordnung der Reime, als durch neue und auf-
fallende Gedanken hervorzuheben.“
28) und Minneſ. denkt aber der Dichter nicht, wozu gerade der Ort
geweſen waͤre, ja er nennt die Nachtigall von der Vogelweide
ſelber eine Meiſterinne (v. 4680.), wenn auch im allgemeinen
Sinn, der aber hier, falls jener Unterſchied Statt geſunden,
ſelbſt vermieden worden waͤre.
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