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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Innere Beweise.


Das Wesen alles Gesangs besteht in einem Maaß, wo-
durch sich gewisse gleiche Abschnitte oder Ruhen einsetzen, und
das man zuletzt nur aus demselben Princip zu begreifen ver-
mag, welches das Athmen, das Schlagen des Bluts, die
Schritte des Gehens leitet. Ein Satz, durch den auf die
Innigkeit der ganzen Natur mit der Poesie helles Licht fällt,
ohne den keine Metrik in der allgemeinsten Bedeutung des
Worts verstanden werden kann, dessen Ausführung aber nicht
hierher gehört. Ich habe schon anderswo 25) angedeutet, wie
die Volkspoesie alles ihr Maaß klar und rein in sich behält, die
Kunstpoesie hingegen nicht selten falsch anwendet und eigenen
Gefallen findet, sich zu beschränken.

Eine solche Beschränkung tritt auch an unserm Meister-
gesang sichtbar hervor. Seine ganze Art zeigt und seine Ge-
schichte bestätigt, daß ein tiefgegründetes, herrliches Princip
nach und nach ausgehöhlt und ein todtes aus einem lebendi-
gen geworden ist.

Als ich das Wesen des Meistergesanges in eine gewisse
Künstlichkeit der Form setzte, hätte ich darauf am wenigsten
die Einwendung erwartet: daß jedes Gedicht, wenigstens je-
der Gesang, eine Form haben müsse, jene Bestimmung mit-
hin gar nichts aussage. In dem Meistersang ist sich nicht nur
die Form durchaus ihrer bewußt geworden, sondern sie übt
sich auch neben größter Mannichfaltigkeit in gezogenen Kreisen.
Wir haben folglich, wenn wir sie einer eigenen Klasse von
Dichtern Jahrhunderte hindurch besonders zusprechen müssen,
immer das Recht dieselbe Form von allen andern historisch
abzusondern.


25) Heidelberg. Jahrb. 1810. Heft 27.
Innere Beweiſe.


Das Weſen alles Geſangs beſteht in einem Maaß, wo-
durch ſich gewiſſe gleiche Abſchnitte oder Ruhen einſetzen, und
das man zuletzt nur aus demſelben Princip zu begreifen ver-
mag, welches das Athmen, das Schlagen des Bluts, die
Schritte des Gehens leitet. Ein Satz, durch den auf die
Innigkeit der ganzen Natur mit der Poeſie helles Licht faͤllt,
ohne den keine Metrik in der allgemeinſten Bedeutung des
Worts verſtanden werden kann, deſſen Ausfuͤhrung aber nicht
hierher gehoͤrt. Ich habe ſchon anderswo 25) angedeutet, wie
die Volkspoeſie alles ihr Maaß klar und rein in ſich behaͤlt, die
Kunſtpoeſie hingegen nicht ſelten falſch anwendet und eigenen
Gefallen findet, ſich zu beſchraͤnken.

Eine ſolche Beſchraͤnkung tritt auch an unſerm Meiſter-
geſang ſichtbar hervor. Seine ganze Art zeigt und ſeine Ge-
ſchichte beſtaͤtigt, daß ein tiefgegruͤndetes, herrliches Princip
nach und nach ausgehoͤhlt und ein todtes aus einem lebendi-
gen geworden iſt.

Als ich das Weſen des Meiſtergeſanges in eine gewiſſe
Kuͤnſtlichkeit der Form ſetzte, haͤtte ich darauf am wenigſten
die Einwendung erwartet: daß jedes Gedicht, wenigſtens je-
der Geſang, eine Form haben muͤſſe, jene Beſtimmung mit-
hin gar nichts ausſage. In dem Meiſterſang iſt ſich nicht nur
die Form durchaus ihrer bewußt geworden, ſondern ſie uͤbt
ſich auch neben groͤßter Mannichfaltigkeit in gezogenen Kreiſen.
Wir haben folglich, wenn wir ſie einer eigenen Klaſſe von
Dichtern Jahrhunderte hindurch beſonders zuſprechen muͤſſen,
immer das Recht dieſelbe Form von allen andern hiſtoriſch
abzuſondern.


25) Heidelberg. Jahrb. 1810. Heft 27.
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[36/0046] Innere Beweiſe. Das Weſen alles Geſangs beſteht in einem Maaß, wo- durch ſich gewiſſe gleiche Abſchnitte oder Ruhen einſetzen, und das man zuletzt nur aus demſelben Princip zu begreifen ver- mag, welches das Athmen, das Schlagen des Bluts, die Schritte des Gehens leitet. Ein Satz, durch den auf die Innigkeit der ganzen Natur mit der Poeſie helles Licht faͤllt, ohne den keine Metrik in der allgemeinſten Bedeutung des Worts verſtanden werden kann, deſſen Ausfuͤhrung aber nicht hierher gehoͤrt. Ich habe ſchon anderswo 25) angedeutet, wie die Volkspoeſie alles ihr Maaß klar und rein in ſich behaͤlt, die Kunſtpoeſie hingegen nicht ſelten falſch anwendet und eigenen Gefallen findet, ſich zu beſchraͤnken. Eine ſolche Beſchraͤnkung tritt auch an unſerm Meiſter- geſang ſichtbar hervor. Seine ganze Art zeigt und ſeine Ge- ſchichte beſtaͤtigt, daß ein tiefgegruͤndetes, herrliches Princip nach und nach ausgehoͤhlt und ein todtes aus einem lebendi- gen geworden iſt. Als ich das Weſen des Meiſtergeſanges in eine gewiſſe Kuͤnſtlichkeit der Form ſetzte, haͤtte ich darauf am wenigſten die Einwendung erwartet: daß jedes Gedicht, wenigſtens je- der Geſang, eine Form haben muͤſſe, jene Beſtimmung mit- hin gar nichts ausſage. In dem Meiſterſang iſt ſich nicht nur die Form durchaus ihrer bewußt geworden, ſondern ſie uͤbt ſich auch neben groͤßter Mannichfaltigkeit in gezogenen Kreiſen. Wir haben folglich, wenn wir ſie einer eigenen Klaſſe von Dichtern Jahrhunderte hindurch beſonders zuſprechen muͤſſen, immer das Recht dieſelbe Form von allen andern hiſtoriſch abzuſondern. 25) Heidelberg. Jahrb. 1810. Heft 27.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/46>, abgerufen am 28.03.2024.