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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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ben können? Alle Stimmen würden sich des kaiserlichen Ur-
sprungs erfreut und die Sage ihn fortgepflanzt haben!

Das Schweigen der späteren Meister wäre also schon in
den früheren gerechtfertigt, es bestätigt nur, daß jene Reichen
sich nie zu großen, wichtigen Werken gewendet; die maneßische
Sammlung beinahe allein ist es, welche in ihrem Glanze strahlt
und sich dessen wohl bewußt geworden zu seyn scheint; augen-
scheinlich ist sie nicht nach dem Alter der Dichter angeordnet,
sondern nach ihrem äußeren Rang 12).

Was noch mehr, andererselts erblicken wir, nach dem Ex-
tract aus der späten Straßburger Tabulatur in einem gewiß
nicht nach den uns bekannten Minneliedersammlungen gemach-
ten, alles unter einander werfenden Verzeichniß der alten Mei-
ster mehrere aus den höheren Ständen, indem ich der adeli-
chen geschweige, einen Graf von Bernburg, von Helderung,
Herzog Otto von Oestreich, Leopold und Wenzel von Böhmen.
Man darf daher nicht behaupten, den späteren Meisterfingern
sey die Existenz ihrer fürstlichen Vorfahren gänzlich unbekannt
geblieben, allein sie haben nicht darin die Ehre ihrer Kunst
gesetzt, weil der Ursprung der Kunst nicht in jenen gelegen.
Und dieses kann auch wohl dienen, die Paradoxie eines Freun-
des zu widerlegen, daß vielleicht kein Fürst die ihm zugeschrie-
benen Lieder selbst gemacht, sondern sie auf seinen Namen von
berühmten Dichtern habe verfassen lassen. Dem widerspräche
auch so manches, was aus dem Leben der Provenzal- und
französischen Dichter bekannt geworden; einem Richard Löwen-

12) Es mögen noch viel Minnelieder außer ihr existirt haben, und
eine genaue Bestimmung des Verhältnisses der vatieanischen
H. S. zu ihr, welche wir von Glöckle hoffen, hat schon darum
ihr großes Interesse. Später hat man offenbar für die H. S.
der älteren Meisterlieder wenig gesorgt, sonst müßten ihrer mehr
erhalten worden seyn. In Püterichs ganzer Bibliothek
keine einzige!

ben koͤnnen? Alle Stimmen wuͤrden ſich des kaiſerlichen Ur-
ſprungs erfreut und die Sage ihn fortgepflanzt haben!

Das Schweigen der ſpaͤteren Meiſter waͤre alſo ſchon in
den fruͤheren gerechtfertigt, es beſtaͤtigt nur, daß jene Reichen
ſich nie zu großen, wichtigen Werken gewendet; die maneßiſche
Sammlung beinahe allein iſt es, welche in ihrem Glanze ſtrahlt
und ſich deſſen wohl bewußt geworden zu ſeyn ſcheint; augen-
ſcheinlich iſt ſie nicht nach dem Alter der Dichter angeordnet,
ſondern nach ihrem aͤußeren Rang 12).

Was noch mehr, andererſelts erblicken wir, nach dem Ex-
tract aus der ſpaͤten Straßburger Tabulatur in einem gewiß
nicht nach den uns bekannten Minneliederſammlungen gemach-
ten, alles unter einander werfenden Verzeichniß der alten Mei-
ſter mehrere aus den hoͤheren Staͤnden, indem ich der adeli-
chen geſchweige, einen Graf von Bernburg, von Helderung,
Herzog Otto von Oeſtreich, Leopold und Wenzel von Boͤhmen.
Man darf daher nicht behaupten, den ſpaͤteren Meiſterfingern
ſey die Exiſtenz ihrer fuͤrſtlichen Vorfahren gaͤnzlich unbekannt
geblieben, allein ſie haben nicht darin die Ehre ihrer Kunſt
geſetzt, weil der Urſprung der Kunſt nicht in jenen gelegen.
Und dieſes kann auch wohl dienen, die Paradoxie eines Freun-
des zu widerlegen, daß vielleicht kein Fuͤrſt die ihm zugeſchrie-
benen Lieder ſelbſt gemacht, ſondern ſie auf ſeinen Namen von
beruͤhmten Dichtern habe verfaſſen laſſen. Dem widerſpraͤche
auch ſo manches, was aus dem Leben der Provenzal- und
franzoͤſiſchen Dichter bekannt geworden; einem Richard Loͤwen-

12) Es moͤgen noch viel Minnelieder außer ihr exiſtirt haben, und
eine genaue Beſtimmung des Verhaͤltniſſes der vatieaniſchen
H. S. zu ihr, welche wir von Gloͤckle hoffen, hat ſchon darum
ihr großes Intereſſe. Spaͤter hat man offenbar fuͤr die H. S.
der aͤlteren Meiſterlieder wenig geſorgt, ſonſt muͤßten ihrer mehr
erhalten worden ſeyn. In Puͤterichs ganzer Bibliothek
keine einzige!
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[23/0033] ben koͤnnen? Alle Stimmen wuͤrden ſich des kaiſerlichen Ur- ſprungs erfreut und die Sage ihn fortgepflanzt haben! Das Schweigen der ſpaͤteren Meiſter waͤre alſo ſchon in den fruͤheren gerechtfertigt, es beſtaͤtigt nur, daß jene Reichen ſich nie zu großen, wichtigen Werken gewendet; die maneßiſche Sammlung beinahe allein iſt es, welche in ihrem Glanze ſtrahlt und ſich deſſen wohl bewußt geworden zu ſeyn ſcheint; augen- ſcheinlich iſt ſie nicht nach dem Alter der Dichter angeordnet, ſondern nach ihrem aͤußeren Rang 12). Was noch mehr, andererſelts erblicken wir, nach dem Ex- tract aus der ſpaͤten Straßburger Tabulatur in einem gewiß nicht nach den uns bekannten Minneliederſammlungen gemach- ten, alles unter einander werfenden Verzeichniß der alten Mei- ſter mehrere aus den hoͤheren Staͤnden, indem ich der adeli- chen geſchweige, einen Graf von Bernburg, von Helderung, Herzog Otto von Oeſtreich, Leopold und Wenzel von Boͤhmen. Man darf daher nicht behaupten, den ſpaͤteren Meiſterfingern ſey die Exiſtenz ihrer fuͤrſtlichen Vorfahren gaͤnzlich unbekannt geblieben, allein ſie haben nicht darin die Ehre ihrer Kunſt geſetzt, weil der Urſprung der Kunſt nicht in jenen gelegen. Und dieſes kann auch wohl dienen, die Paradoxie eines Freun- des zu widerlegen, daß vielleicht kein Fuͤrſt die ihm zugeſchrie- benen Lieder ſelbſt gemacht, ſondern ſie auf ſeinen Namen von beruͤhmten Dichtern habe verfaſſen laſſen. Dem widerſpraͤche auch ſo manches, was aus dem Leben der Provenzal- und franzoͤſiſchen Dichter bekannt geworden; einem Richard Loͤwen- 12) Es moͤgen noch viel Minnelieder außer ihr exiſtirt haben, und eine genaue Beſtimmung des Verhaͤltniſſes der vatieaniſchen H. S. zu ihr, welche wir von Gloͤckle hoffen, hat ſchon darum ihr großes Intereſſe. Spaͤter hat man offenbar fuͤr die H. S. der aͤlteren Meiſterlieder wenig geſorgt, ſonſt muͤßten ihrer mehr erhalten worden ſeyn. In Puͤterichs ganzer Bibliothek keine einzige!

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/33>, abgerufen am 28.03.2024.