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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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strophenmäßigen, singbaren Volksgedichte ein Vorbild gewesen.
Das ist nun auch der Fall, und schon oben im Beispiel von
Wolframs Tyturel bewiesen. Ein wirklicher Meistersang, im-
gleichen der Loherangrin und einige andere.

Ob ein Lied von der Länge dieses Tyturels jemals vor-
oder ausgesungen worden ist, kann uns hier gleich gelten. Es
hat zu viel für sich, daß man es mit den Nibelungen in der
That und früher immer so gehalten, die einzelnen Abenteuer
boten die Ruhepuncte, womit man es etwa für einen Abend
bewenden ließ 136). Auch das bloße Lesen kurzzeiliger Ge-
dichte erforderte solche Abschnitte, in deutschen habe ich sie sel-
ten angedeutet gefunden, mehr in einigen altfranzösischen 137).

Nicht anders verhält es sich endlich mit den Spruchge-
dichten. Unsere Meister können dergleichen gemacht haben und
thaten es von Conrad von Wirzburg bis auf Hans Sachs.
Aber Meistersänge sind das nicht 138). Vermuthlich hat es
auch bloße Spruchdichter gegeben, wie wir in dem Teichner
und später in dem Nürnberger Wilhelm Weber sehen. Dieses

136) Wurde die Ilias mehr gesungen oder recitirt? In dem ersten
allerdings zu vermuthenden Fall, da die Begleitung mit der
Cither schwach gewesen zu seyn scheint und die griechische Har-
monie mit dem Rhythmus innig verwandt war, ist anzunehmen,
daß der in jedem Hexameter liegende Grundrhythmus zugleich
auch die Musik bestimmt habe. Maaß und Musik kehrten also
(innerer steter Abwechselung unbeschadet) mit jeder Zeile wieder,
ohne je zu ermüden; ein Hauptunterschied von unserer Nibe-
lungenweise, wo die Zusammennahme von vier Zeilen zu einem
Ganzen und zu einer Melodie.
137) Z. B. in dem (von unserm Loherangrin durchaus verschiede-
nen) Garin le Loherens. Da heißt es im Anfang neuer Ab-
schnitte: huimes dirom oder lirom. (Aujourdhui nous
dirons, lirons.)
138) Cf. Ranisch 323. Sprüche und Spiel vom Meistergesang un-
terschieden.

ſtrophenmaͤßigen, ſingbaren Volksgedichte ein Vorbild geweſen.
Das iſt nun auch der Fall, und ſchon oben im Beiſpiel von
Wolframs Tyturel bewieſen. Ein wirklicher Meiſterſang, im-
gleichen der Loherangrin und einige andere.

Ob ein Lied von der Laͤnge dieſes Tyturels jemals vor-
oder ausgeſungen worden iſt, kann uns hier gleich gelten. Es
hat zu viel fuͤr ſich, daß man es mit den Nibelungen in der
That und fruͤher immer ſo gehalten, die einzelnen Abenteuer
boten die Ruhepuncte, womit man es etwa fuͤr einen Abend
bewenden ließ 136). Auch das bloße Leſen kurzzeiliger Ge-
dichte erforderte ſolche Abſchnitte, in deutſchen habe ich ſie ſel-
ten angedeutet gefunden, mehr in einigen altfranzoͤſiſchen 137).

Nicht anders verhaͤlt es ſich endlich mit den Spruchge-
dichten. Unſere Meiſter koͤnnen dergleichen gemacht haben und
thaten es von Conrad von Wirzburg bis auf Hans Sachs.
Aber Meiſterſaͤnge ſind das nicht 138). Vermuthlich hat es
auch bloße Spruchdichter gegeben, wie wir in dem Teichner
und ſpaͤter in dem Nuͤrnberger Wilhelm Weber ſehen. Dieſes

136) Wurde die Ilias mehr geſungen oder recitirt? In dem erſten
allerdings zu vermuthenden Fall, da die Begleitung mit der
Cither ſchwach geweſen zu ſeyn ſcheint und die griechiſche Har-
monie mit dem Rhythmus innig verwandt war, iſt anzunehmen,
daß der in jedem Hexameter liegende Grundrhythmus zugleich
auch die Muſik beſtimmt habe. Maaß und Muſik kehrten alſo
(innerer ſteter Abwechſelung unbeſchadet) mit jeder Zeile wieder,
ohne je zu ermuͤden; ein Hauptunterſchied von unſerer Nibe-
lungenweiſe, wo die Zuſammennahme von vier Zeilen zu einem
Ganzen und zu einer Melodie.
137) Z. B. in dem (von unſerm Loherangrin durchaus verſchiede-
nen) Garin le Loherens. Da heißt es im Anfang neuer Ab-
ſchnitte: huimes dirom oder lirom. (Aujourdhui nous
dirons, lirons.)
138) Cf. Raniſch 323. Spruͤche und Spiel vom Meiſtergeſang un-
terſchieden.
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[139/0149] ſtrophenmaͤßigen, ſingbaren Volksgedichte ein Vorbild geweſen. Das iſt nun auch der Fall, und ſchon oben im Beiſpiel von Wolframs Tyturel bewieſen. Ein wirklicher Meiſterſang, im- gleichen der Loherangrin und einige andere. Ob ein Lied von der Laͤnge dieſes Tyturels jemals vor- oder ausgeſungen worden iſt, kann uns hier gleich gelten. Es hat zu viel fuͤr ſich, daß man es mit den Nibelungen in der That und fruͤher immer ſo gehalten, die einzelnen Abenteuer boten die Ruhepuncte, womit man es etwa fuͤr einen Abend bewenden ließ 136). Auch das bloße Leſen kurzzeiliger Ge- dichte erforderte ſolche Abſchnitte, in deutſchen habe ich ſie ſel- ten angedeutet gefunden, mehr in einigen altfranzoͤſiſchen 137). Nicht anders verhaͤlt es ſich endlich mit den Spruchge- dichten. Unſere Meiſter koͤnnen dergleichen gemacht haben und thaten es von Conrad von Wirzburg bis auf Hans Sachs. Aber Meiſterſaͤnge ſind das nicht 138). Vermuthlich hat es auch bloße Spruchdichter gegeben, wie wir in dem Teichner und ſpaͤter in dem Nuͤrnberger Wilhelm Weber ſehen. Dieſes 136) Wurde die Ilias mehr geſungen oder recitirt? In dem erſten allerdings zu vermuthenden Fall, da die Begleitung mit der Cither ſchwach geweſen zu ſeyn ſcheint und die griechiſche Har- monie mit dem Rhythmus innig verwandt war, iſt anzunehmen, daß der in jedem Hexameter liegende Grundrhythmus zugleich auch die Muſik beſtimmt habe. Maaß und Muſik kehrten alſo (innerer ſteter Abwechſelung unbeſchadet) mit jeder Zeile wieder, ohne je zu ermuͤden; ein Hauptunterſchied von unſerer Nibe- lungenweiſe, wo die Zuſammennahme von vier Zeilen zu einem Ganzen und zu einer Melodie. 137) Z. B. in dem (von unſerm Loherangrin durchaus verſchiede- nen) Garin le Loherens. Da heißt es im Anfang neuer Ab- ſchnitte: huimes dirom oder lirom. (Aujourdhui nous dirons, lirons.) 138) Cf. Raniſch 323. Spruͤche und Spiel vom Meiſtergeſang un- terſchieden.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/149>, abgerufen am 21.11.2024.