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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Ich lasse es dahin gestellt, ob statt findende Aehnlichkeiten
manchmal als absichtliche Aenderungen gelten können oder nicht
lieber für unbewußte Verschiedenheiten gehalten werden müssen.
Eine vollständig ausgeführte Vergleichung aller Weisen würde
noch bessere Beispiele anbieten, wäre aber auch gar mühsam
anzustellen und ganz entschlage ich mich der Mühe, die Nachah-
mungen späterer Meister, sowohl in alten als neuen Tönen,
darzulegen, niemand zweifelt daran. Erklärt aber nicht das
sich mehrende Nachsingen am füglichsten die Einführung der
vielen Tönenamen 98)?

Ich hatte in meinem vorigen Aufsatz von Rechten der
Meistersänger unter einander gesprochen und muß das in dem
Sinn, worin ich es niederschrieb, zurücknehmen, was ich um
so eher kann, da auch bei spätern Meistern nichts von derglei-
chen vorkommt. In unserer Kunstgenossenschaft gab es wohl
nie andere als persönliche Befugnisse, (die wir in der letzten
Epoche freilich sichtbarer erblicken, als aus der ersten wissen
können,) allein keine sachliche. Lessing, an dessen bewußte
Behauptung ich damals vorzüglich dachte, hat den Spangen-
berg mißverstanden. Obgleich, wie wir gesehen, das Nachsin-
gen fremder Töne (aus andern Gründen) selten war, so fand
es eben im Wartb. Kr. ohne Anstoß statt. In den Schulen
des 15. u. 16. Jahrh. wurde kein Meister gestraft, daß er in
einem fremden Ton gesungen, wohl aber, wenn er ihn fehler-
haft absang, nicht weniger als hätte er in seinem eigenen ge-
fehlt; oder wenn er in einem angeblich neuerfundenen in einen
alten eingriff, welches nur unter vier Silben erlaubt war.
Daß ein Meister auf seinen Ton, wie auf seinen Gedanken
hielt, ist zu natürlich; bloße Nachsinger waren gering geach-

98) Andererseits mag auch das handwerkerische Ceremoniel darauf
eingeflossen haben. Wie man die Gesellen taufte, wollte man
auch den Tönen einen ehrlichen Namen geben, selbst zwei Ge-
vatter wurden dazu erbeten.
H

Ich laſſe es dahin geſtellt, ob ſtatt findende Aehnlichkeiten
manchmal als abſichtliche Aenderungen gelten koͤnnen oder nicht
lieber fuͤr unbewußte Verſchiedenheiten gehalten werden muͤſſen.
Eine vollſtaͤndig ausgefuͤhrte Vergleichung aller Weiſen wuͤrde
noch beſſere Beiſpiele anbieten, waͤre aber auch gar muͤhſam
anzuſtellen und ganz entſchlage ich mich der Muͤhe, die Nachah-
mungen ſpaͤterer Meiſter, ſowohl in alten als neuen Toͤnen,
darzulegen, niemand zweifelt daran. Erklaͤrt aber nicht das
ſich mehrende Nachſingen am fuͤglichſten die Einfuͤhrung der
vielen Toͤnenamen 98)?

Ich hatte in meinem vorigen Aufſatz von Rechten der
Meiſterſaͤnger unter einander geſprochen und muß das in dem
Sinn, worin ich es niederſchrieb, zuruͤcknehmen, was ich um
ſo eher kann, da auch bei ſpaͤtern Meiſtern nichts von derglei-
chen vorkommt. In unſerer Kunſtgenoſſenſchaft gab es wohl
nie andere als perſoͤnliche Befugniſſe, (die wir in der letzten
Epoche freilich ſichtbarer erblicken, als aus der erſten wiſſen
koͤnnen,) allein keine ſachliche. Leſſing, an deſſen bewußte
Behauptung ich damals vorzuͤglich dachte, hat den Spangen-
berg mißverſtanden. Obgleich, wie wir geſehen, das Nachſin-
gen fremder Toͤne (aus andern Gruͤnden) ſelten war, ſo fand
es eben im Wartb. Kr. ohne Anſtoß ſtatt. In den Schulen
des 15. u. 16. Jahrh. wurde kein Meiſter geſtraft, daß er in
einem fremden Ton geſungen, wohl aber, wenn er ihn fehler-
haft abſang, nicht weniger als haͤtte er in ſeinem eigenen ge-
fehlt; oder wenn er in einem angeblich neuerfundenen in einen
alten eingriff, welches nur unter vier Silben erlaubt war.
Daß ein Meiſter auf ſeinen Ton, wie auf ſeinen Gedanken
hielt, iſt zu natuͤrlich; bloße Nachſinger waren gering geach-

98) Andererſeits mag auch das handwerkeriſche Ceremoniel darauf
eingefloſſen haben. Wie man die Geſellen taufte, wollte man
auch den Toͤnen einen ehrlichen Namen geben, ſelbſt zwei Ge-
vatter wurden dazu erbeten.
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[113/0123] Ich laſſe es dahin geſtellt, ob ſtatt findende Aehnlichkeiten manchmal als abſichtliche Aenderungen gelten koͤnnen oder nicht lieber fuͤr unbewußte Verſchiedenheiten gehalten werden muͤſſen. Eine vollſtaͤndig ausgefuͤhrte Vergleichung aller Weiſen wuͤrde noch beſſere Beiſpiele anbieten, waͤre aber auch gar muͤhſam anzuſtellen und ganz entſchlage ich mich der Muͤhe, die Nachah- mungen ſpaͤterer Meiſter, ſowohl in alten als neuen Toͤnen, darzulegen, niemand zweifelt daran. Erklaͤrt aber nicht das ſich mehrende Nachſingen am fuͤglichſten die Einfuͤhrung der vielen Toͤnenamen 98)? Ich hatte in meinem vorigen Aufſatz von Rechten der Meiſterſaͤnger unter einander geſprochen und muß das in dem Sinn, worin ich es niederſchrieb, zuruͤcknehmen, was ich um ſo eher kann, da auch bei ſpaͤtern Meiſtern nichts von derglei- chen vorkommt. In unſerer Kunſtgenoſſenſchaft gab es wohl nie andere als perſoͤnliche Befugniſſe, (die wir in der letzten Epoche freilich ſichtbarer erblicken, als aus der erſten wiſſen koͤnnen,) allein keine ſachliche. Leſſing, an deſſen bewußte Behauptung ich damals vorzuͤglich dachte, hat den Spangen- berg mißverſtanden. Obgleich, wie wir geſehen, das Nachſin- gen fremder Toͤne (aus andern Gruͤnden) ſelten war, ſo fand es eben im Wartb. Kr. ohne Anſtoß ſtatt. In den Schulen des 15. u. 16. Jahrh. wurde kein Meiſter geſtraft, daß er in einem fremden Ton geſungen, wohl aber, wenn er ihn fehler- haft abſang, nicht weniger als haͤtte er in ſeinem eigenen ge- fehlt; oder wenn er in einem angeblich neuerfundenen in einen alten eingriff, welches nur unter vier Silben erlaubt war. Daß ein Meiſter auf ſeinen Ton, wie auf ſeinen Gedanken hielt, iſt zu natuͤrlich; bloße Nachſinger waren gering geach- 98) Andererſeits mag auch das handwerkeriſche Ceremoniel darauf eingefloſſen haben. Wie man die Geſellen taufte, wollte man auch den Toͤnen einen ehrlichen Namen geben, ſelbſt zwei Ge- vatter wurden dazu erbeten. H

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/123>, abgerufen am 28.04.2024.