Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Nacht. 'Frau Mutter,' sprach sie zur Alten, 'ist euch etwas begegnet? ihr seid so lange ausgeblieben.' 'Bewahre, mein Töchterchen,' erwiderte sie, 'mir ist nichts Böses begegnet, im Gegentheil der liebe Herr da hat mir meine Last getragen; denk dir, als ich müde war, hat er mich selbst noch auf den Rücken genommen. Der Weg ist uns auch gar nicht lang geworden, wir sind lustig gewesen und haben immer Spaß miteinander gemacht.' Endlich rutschte die Alte herab, nahm dem jungen Mann den Bündel vom Rücken und die Körbe vom Arm, sah ihn ganz freundlich an und sprach 'nun setzt euch auf die Bank vor die Thüre und ruht euch aus. Jhr habt euern Lohn redlich verdient, der soll auch nicht ausbleiben.' Dann sprach sie zu der Gänsehirtin 'geh du ins Haus hinein, mein Töchterchen, es schickt sich nicht daß du mit einem jungen Herrn allein bist, man muß nicht Öl ins Feuer gießen; er könnte sich in dich verlieben.' Der Graf wußte nicht ob er weinen oder lachen sollte. 'Solch ein Schätzchen,' dachte er, 'und wenn es dreißig Jahre jünger wäre, könnte doch mein Herz nicht rühren.' Jndessen hätschelte und streichelte die Alte ihre Gänse wie Kinder und gieng dann mit ihrer Tochter in das Haus. Der Jüngling streckte sich auf die Bank unter einem wilden Apfelbaum. Die Luft war lau und mild: rings umher breitete sich eine grüne Wiese aus, die mit Himmelsschlüsseln, wildem Thymian und tausend andern Blumen übersät war: mitten durch rauschte ein klarer Bach, auf dem die Sonne glitzerte: und die weißen Gänse giengen auf und ab spazieren oder pudelten sich im Wasser. 'Es ist recht lieblich hier,' sagte er, 'aber ich bin so müde, daß ich die Augen nicht aufbehalten mag: ich will ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoß kommt und bläst mir meine Beine vom Leib weg, denn sie sind mürb wie Zunder.'

Als er ein Weilchen geschlafen hatte, kam die Alte, und schüttelte ihn wach. 'Steh auf,' sagte sie, 'hier kannst du nicht bleiben.

Nacht. ‘Frau Mutter,’ sprach sie zur Alten, ‘ist euch etwas begegnet? ihr seid so lange ausgeblieben.’ ‘Bewahre, mein Töchterchen,’ erwiderte sie, ‘mir ist nichts Böses begegnet, im Gegentheil der liebe Herr da hat mir meine Last getragen; denk dir, als ich müde war, hat er mich selbst noch auf den Rücken genommen. Der Weg ist uns auch gar nicht lang geworden, wir sind lustig gewesen und haben immer Spaß miteinander gemacht.’ Endlich rutschte die Alte herab, nahm dem jungen Mann den Bündel vom Rücken und die Körbe vom Arm, sah ihn ganz freundlich an und sprach ‘nun setzt euch auf die Bank vor die Thüre und ruht euch aus. Jhr habt euern Lohn redlich verdient, der soll auch nicht ausbleiben.’ Dann sprach sie zu der Gänsehirtin ‘geh du ins Haus hinein, mein Töchterchen, es schickt sich nicht daß du mit einem jungen Herrn allein bist, man muß nicht Öl ins Feuer gießen; er könnte sich in dich verlieben.’ Der Graf wußte nicht ob er weinen oder lachen sollte. ‘Solch ein Schätzchen,’ dachte er, ‘und wenn es dreißig Jahre jünger wäre, könnte doch mein Herz nicht rühren.’ Jndessen hätschelte und streichelte die Alte ihre Gänse wie Kinder und gieng dann mit ihrer Tochter in das Haus. Der Jüngling streckte sich auf die Bank unter einem wilden Apfelbaum. Die Luft war lau und mild: rings umher breitete sich eine grüne Wiese aus, die mit Himmelsschlüsseln, wildem Thymian und tausend andern Blumen übersät war: mitten durch rauschte ein klarer Bach, auf dem die Sonne glitzerte: und die weißen Gänse giengen auf und ab spazieren oder pudelten sich im Wasser. ‘Es ist recht lieblich hier,’ sagte er, ‘aber ich bin so müde, daß ich die Augen nicht aufbehalten mag: ich will ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoß kommt und bläst mir meine Beine vom Leib weg, denn sie sind mürb wie Zunder.’

Als er ein Weilchen geschlafen hatte, kam die Alte, und schüttelte ihn wach. ‘Steh auf,’ sagte sie, ‘hier kannst du nicht bleiben.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0377" n="365"/>
Nacht. &#x2018;Frau Mutter,&#x2019; sprach sie zur Alten, &#x2018;ist euch etwas begegnet? ihr seid so lange ausgeblieben.&#x2019; &#x2018;Bewahre, mein Töchterchen,&#x2019; erwiderte sie, &#x2018;mir ist nichts Böses begegnet, im Gegentheil der liebe Herr da hat mir meine Last getragen; denk dir, als ich müde war, hat er mich selbst noch auf den Rücken genommen. Der Weg ist uns auch gar nicht lang geworden, wir sind lustig gewesen und haben immer Spaß miteinander gemacht.&#x2019; Endlich rutschte die Alte herab, nahm dem jungen Mann den Bündel vom Rücken und die Körbe vom Arm, sah ihn ganz freundlich an und sprach &#x2018;nun setzt euch auf die Bank vor die Thüre und ruht euch aus. Jhr habt euern Lohn redlich verdient, der soll auch nicht ausbleiben.&#x2019; Dann sprach sie zu der Gänsehirtin &#x2018;geh du ins Haus hinein, mein Töchterchen, es schickt sich nicht daß du mit einem jungen Herrn allein bist, man muß nicht Öl ins Feuer gießen; er könnte sich in dich verlieben.&#x2019; Der Graf wußte nicht ob er weinen oder lachen sollte. &#x2018;Solch ein Schätzchen,&#x2019; dachte er, &#x2018;und wenn es dreißig Jahre jünger wäre, könnte doch mein Herz nicht rühren.&#x2019; Jndessen hätschelte und streichelte die Alte ihre Gänse wie Kinder und gieng dann mit ihrer Tochter in das Haus. Der Jüngling streckte sich auf die Bank unter einem wilden Apfelbaum. Die Luft war lau und mild: rings umher breitete sich eine grüne Wiese aus, die mit Himmelsschlüsseln, wildem Thymian und tausend andern Blumen übersät war: mitten durch rauschte ein klarer Bach, auf dem die Sonne glitzerte: und die weißen Gänse giengen auf und ab spazieren oder pudelten sich im Wasser. &#x2018;Es ist recht lieblich hier,&#x2019; sagte er, &#x2018;aber ich bin so müde, daß ich die Augen nicht aufbehalten mag: ich will ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoß kommt und bläst mir meine Beine vom Leib weg, denn sie sind mürb wie Zunder.&#x2019;</p><lb/>
        <p>Als er ein Weilchen geschlafen hatte, kam die Alte, und schüttelte ihn wach. &#x2018;Steh auf,&#x2019; sagte sie, &#x2018;hier kannst du nicht bleiben.
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[365/0377] Nacht. ‘Frau Mutter,’ sprach sie zur Alten, ‘ist euch etwas begegnet? ihr seid so lange ausgeblieben.’ ‘Bewahre, mein Töchterchen,’ erwiderte sie, ‘mir ist nichts Böses begegnet, im Gegentheil der liebe Herr da hat mir meine Last getragen; denk dir, als ich müde war, hat er mich selbst noch auf den Rücken genommen. Der Weg ist uns auch gar nicht lang geworden, wir sind lustig gewesen und haben immer Spaß miteinander gemacht.’ Endlich rutschte die Alte herab, nahm dem jungen Mann den Bündel vom Rücken und die Körbe vom Arm, sah ihn ganz freundlich an und sprach ‘nun setzt euch auf die Bank vor die Thüre und ruht euch aus. Jhr habt euern Lohn redlich verdient, der soll auch nicht ausbleiben.’ Dann sprach sie zu der Gänsehirtin ‘geh du ins Haus hinein, mein Töchterchen, es schickt sich nicht daß du mit einem jungen Herrn allein bist, man muß nicht Öl ins Feuer gießen; er könnte sich in dich verlieben.’ Der Graf wußte nicht ob er weinen oder lachen sollte. ‘Solch ein Schätzchen,’ dachte er, ‘und wenn es dreißig Jahre jünger wäre, könnte doch mein Herz nicht rühren.’ Jndessen hätschelte und streichelte die Alte ihre Gänse wie Kinder und gieng dann mit ihrer Tochter in das Haus. Der Jüngling streckte sich auf die Bank unter einem wilden Apfelbaum. Die Luft war lau und mild: rings umher breitete sich eine grüne Wiese aus, die mit Himmelsschlüsseln, wildem Thymian und tausend andern Blumen übersät war: mitten durch rauschte ein klarer Bach, auf dem die Sonne glitzerte: und die weißen Gänse giengen auf und ab spazieren oder pudelten sich im Wasser. ‘Es ist recht lieblich hier,’ sagte er, ‘aber ich bin so müde, daß ich die Augen nicht aufbehalten mag: ich will ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoß kommt und bläst mir meine Beine vom Leib weg, denn sie sind mürb wie Zunder.’ Als er ein Weilchen geschlafen hatte, kam die Alte, und schüttelte ihn wach. ‘Steh auf,’ sagte sie, ‘hier kannst du nicht bleiben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Google Books (Harvard University): Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-08T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/377
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/377>, abgerufen am 22.05.2024.