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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.

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und auch kein rothes Blutströpfchen, und als sie die Augen aufschlug, da war die Taube verschwunden. Und weil sie dachte, Menschen können dir da nichts helfen, so stieg sie zur Sonne hinauf und sagte zu ihr: "du scheinst in alle Ritzen und über alle Spitzen; hast du keine weiße Taube fliegen sehen?" -- "Nein, sagte die Sonne, ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir ein Schächtelchen, das mach auf, wenn du in großer Noth bist." Da dankte sie der Sonne und ging weiter bis es Abend war und der Mond schien, da fragte sie ihn: du scheinst ja die ganze Nacht, durch alle Felder und Wälder: hast du keine weiße Taube fliegen sehen?" -- "Nein, sagte der Mond, ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir ein Ei, das zerbrich wenn du in großer Noth bist." -- Da dankte sie dem Mond und ging weiter, bis der Nachtwind wehte, da sprach sie zu ihm: "du wehst ja durch alle Bäume und unter alle Blätterchen weg, hast du keine weiße Taube fliegen sehen?" "Nein, sagte der Nachtwind, ich habe keine gesehen, aber ich will die drei andern Winde fragen, die haben sie vielleicht gesehen." Der Ostwind und der Westwind kamen und sagten, sie hätten nichts gesehen, der Südwind aber sprach: "die weiße Taube hab' ich gesehen, sie ist zum rothen Meer geflogen, da ist sie wieder ein Löwe geworden, denn die sieben Jahre sind herum, und der Löwe steht dort im Kampf mit einem Lindwurm, der Lindwurm ist aber eine verzauberte Königstochter." Da sagte der Nachtwind zu ihr: "ich will dir Rath geben, geh' zum rothen Meer', am rechten Ufer da stehen große Ruthen, die zähl' und die eilfte schneid' dir ab und schlag' den

und auch kein rothes Blutstroͤpfchen, und als sie die Augen aufschlug, da war die Taube verschwunden. Und weil sie dachte, Menschen koͤnnen dir da nichts helfen, so stieg sie zur Sonne hinauf und sagte zu ihr: „du scheinst in alle Ritzen und uͤber alle Spitzen; hast du keine weiße Taube fliegen sehen?“ — „Nein, sagte die Sonne, ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir ein Schaͤchtelchen, das mach auf, wenn du in großer Noth bist.“ Da dankte sie der Sonne und ging weiter bis es Abend war und der Mond schien, da fragte sie ihn: du scheinst ja die ganze Nacht, durch alle Felder und Waͤlder: hast du keine weiße Taube fliegen sehen?“ — „Nein, sagte der Mond, ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir ein Ei, das zerbrich wenn du in großer Noth bist.“ — Da dankte sie dem Mond und ging weiter, bis der Nachtwind wehte, da sprach sie zu ihm: „du wehst ja durch alle Baͤume und unter alle Blaͤtterchen weg, hast du keine weiße Taube fliegen sehen?“ „Nein, sagte der Nachtwind, ich habe keine gesehen, aber ich will die drei andern Winde fragen, die haben sie vielleicht gesehen.“ Der Ostwind und der Westwind kamen und sagten, sie haͤtten nichts gesehen, der Suͤdwind aber sprach: „die weiße Taube hab’ ich gesehen, sie ist zum rothen Meer geflogen, da ist sie wieder ein Loͤwe geworden, denn die sieben Jahre sind herum, und der Loͤwe steht dort im Kampf mit einem Lindwurm, der Lindwurm ist aber eine verzauberte Koͤnigstochter.“ Da sagte der Nachtwind zu ihr: „ich will dir Rath geben, geh’ zum rothen Meer’, am rechten Ufer da stehen große Ruthen, die zaͤhl’ und die eilfte schneid’ dir ab und schlag’ den

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[10/0088] und auch kein rothes Blutstroͤpfchen, und als sie die Augen aufschlug, da war die Taube verschwunden. Und weil sie dachte, Menschen koͤnnen dir da nichts helfen, so stieg sie zur Sonne hinauf und sagte zu ihr: „du scheinst in alle Ritzen und uͤber alle Spitzen; hast du keine weiße Taube fliegen sehen?“ — „Nein, sagte die Sonne, ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir ein Schaͤchtelchen, das mach auf, wenn du in großer Noth bist.“ Da dankte sie der Sonne und ging weiter bis es Abend war und der Mond schien, da fragte sie ihn: du scheinst ja die ganze Nacht, durch alle Felder und Waͤlder: hast du keine weiße Taube fliegen sehen?“ — „Nein, sagte der Mond, ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir ein Ei, das zerbrich wenn du in großer Noth bist.“ — Da dankte sie dem Mond und ging weiter, bis der Nachtwind wehte, da sprach sie zu ihm: „du wehst ja durch alle Baͤume und unter alle Blaͤtterchen weg, hast du keine weiße Taube fliegen sehen?“ „Nein, sagte der Nachtwind, ich habe keine gesehen, aber ich will die drei andern Winde fragen, die haben sie vielleicht gesehen.“ Der Ostwind und der Westwind kamen und sagten, sie haͤtten nichts gesehen, der Suͤdwind aber sprach: „die weiße Taube hab’ ich gesehen, sie ist zum rothen Meer geflogen, da ist sie wieder ein Loͤwe geworden, denn die sieben Jahre sind herum, und der Loͤwe steht dort im Kampf mit einem Lindwurm, der Lindwurm ist aber eine verzauberte Koͤnigstochter.“ Da sagte der Nachtwind zu ihr: „ich will dir Rath geben, geh’ zum rothen Meer’, am rechten Ufer da stehen große Ruthen, die zaͤhl’ und die eilfte schneid’ dir ab und schlag’ den

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1819/88>, abgerufen am 02.05.2024.