C. 102. aus dem 15. Jahrh.) worin es 392 Zeilen in elegischem Versmaß bildet und Raparius über- schrieben ist. Eine andere gleichzeitige wird zu Wien aufbewahrt, (Denis II. 2. p. 1271. Cod. DI XII. R. 3356.) Das Gedicht selbst mag indessen bereits im 14. Jahrhund. verfaßt worden seyn, ohne Zweifel nach mündlicher Volkssage, vielleicht eben aus dem Elsaß. Denn die große Rübe gehört zu den Volks- scherzen, und in dem Volksbuch von dem lügenhaf- ten Aufschneider (auch ins Schwedische übersetzt Lund 1790.) heißt es: "Als ich nun weiter fortwanderte und nach Straßburg kam, sah ich daselbst auf dem Feld eine solch große Rübe stehen, als ich noch niemals eine gesehen und ich glaube, daß einer mit einem Roß in drei langen Sommertagen die elbe nicht umreiten könne." Dem Märchen selbst fehlt es nicht an merkwürdigen Beziehungen. Der mißrathene Versuch, den Glückserwerb zu überbieten, da doch das unschuldige Herz fehlt, in viel andern Märchen. Die Erlösung aus dem Sack ist genau die aus dem Brunnen-Eimer in der Thierfabel, wo der Fuchs den dummen Wolf berückt, hinunter ins Himmelreich einzugehen, damit ihn dieser heraus- ziehe; als sie sich unterwegs in den Eimern begegnen, spricht der Fuchs die bekannten spöttischen Worte: "so gehts in der Welt, der eine auf, der andere nie- der!" Dieser Sack und Eimer sind ferner wiederum die Tonne, worin der kluge Mann von den dummen Bauern ersäuft werden soll (s. I. 61. und Scarpafico bei Straparola) der aber einem vorbeigehenden Hir- ten weiß macht, daß wer sich hinein lege, zu einer Hochzeit und großen Würde abgeholt werden sollte. In allen diesen Märchen ist der Wünschelsack oder das Glücksfaß von der komischen Seite dargestellt, denn der Mythus wandelt gern den Ernst in Schimpf um. An die ernsthafte Seite erinnert aber unser Raparius am bedeutendsten: wie hier der Mann am Baum hängend Weisheit lernt, schwebt der nordische Weise in der Luft und lernt alle Wissenschaft (Runa- capituli) veit ek, at ek hiek vindga meidi a nätur allar niu. (weiß ich, daß ich hing am winddurchwehten Baum
C. 102. aus dem 15. Jahrh.) worin es 392 Zeilen in elegiſchem Versmaß bildet und Raparius uͤber- ſchrieben iſt. Eine andere gleichzeitige wird zu Wien aufbewahrt, (Denis II. 2. p. 1271. Cod. DI XII. R. 3356.) Das Gedicht ſelbſt mag indeſſen bereits im 14. Jahrhund. verfaßt worden ſeyn, ohne Zweifel nach muͤndlicher Volksſage, vielleicht eben aus dem Elſaß. Denn die große Ruͤbe gehoͤrt zu den Volks- ſcherzen, und in dem Volksbuch von dem luͤgenhaf- ten Aufſchneider (auch ins Schwediſche uͤberſetzt Lund 1790.) heißt es: „Als ich nun weiter fortwanderte und nach Straßburg kam, ſah ich daſelbſt auf dem Feld eine ſolch große Ruͤbe ſtehen, als ich noch niemals eine geſehen und ich glaube, daß einer mit einem Roß in drei langen Sommertagen die elbe nicht umreiten koͤnne.“ Dem Maͤrchen ſelbſt fehlt es nicht an merkwuͤrdigen Beziehungen. Der mißrathene Verſuch, den Gluͤckserwerb zu uͤberbieten, da doch das unſchuldige Herz fehlt, in viel andern Maͤrchen. Die Erloͤſung aus dem Sack iſt genau die aus dem Brunnen-Eimer in der Thierfabel, wo der Fuchs den dummen Wolf beruͤckt, hinunter ins Himmelreich einzugehen, damit ihn dieſer heraus- ziehe; als ſie ſich unterwegs in den Eimern begegnen, ſpricht der Fuchs die bekannten ſpoͤttiſchen Worte: „ſo gehts in der Welt, der eine auf, der andere nie- der!“ Dieſer Sack und Eimer ſind ferner wiederum die Tonne, worin der kluge Mann von den dummen Bauern erſaͤuft werden ſoll (ſ. I. 61. und Scarpafico bei Straparola) der aber einem vorbeigehenden Hir- ten weiß macht, daß wer ſich hinein lege, zu einer Hochzeit und großen Wuͤrde abgeholt werden ſollte. In allen dieſen Maͤrchen iſt der Wuͤnſchelſack oder das Gluͤcksfaß von der komiſchen Seite dargeſtellt, denn der Mythus wandelt gern den Ernſt in Schimpf um. An die ernſthafte Seite erinnert aber unſer Raparius am bedeutendſten: wie hier der Mann am Baum haͤngend Weisheit lernt, ſchwebt der nordiſche Weiſe in der Luft und lernt alle Wiſſenſchaft (Runa- capituli) veit ek, at ek hiek vindga meidi a naͤtur allar niu. (weiß ich, daß ich hing am winddurchwehten Baum
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[XXXXV[XLV]/0364]
C. 102. aus dem 15. Jahrh.) worin es 392 Zeilen in
elegiſchem Versmaß bildet und Raparius uͤber-
ſchrieben iſt. Eine andere gleichzeitige wird zu Wien
aufbewahrt, (Denis II. 2. p. 1271. Cod. DI XII.
R. 3356.) Das Gedicht ſelbſt mag indeſſen bereits im
14. Jahrhund. verfaßt worden ſeyn, ohne Zweifel
nach muͤndlicher Volksſage, vielleicht eben aus dem
Elſaß. Denn die große Ruͤbe gehoͤrt zu den Volks-
ſcherzen, und in dem Volksbuch von dem luͤgenhaf-
ten Aufſchneider (auch ins Schwediſche uͤberſetzt Lund
1790.) heißt es: „Als ich nun weiter fortwanderte
und nach Straßburg kam, ſah ich daſelbſt
auf dem Feld eine ſolch große Ruͤbe ſtehen,
als ich noch niemals eine geſehen und ich glaube, daß
einer mit einem Roß in drei langen Sommertagen
die elbe nicht umreiten koͤnne.“ Dem Maͤrchen ſelbſt
fehlt es nicht an merkwuͤrdigen Beziehungen. Der
mißrathene Verſuch, den Gluͤckserwerb zu uͤberbieten,
da doch das unſchuldige Herz fehlt, in viel andern
Maͤrchen. Die Erloͤſung aus dem Sack iſt genau
die aus dem Brunnen-Eimer in der Thierfabel, wo
der Fuchs den dummen Wolf beruͤckt, hinunter ins
Himmelreich einzugehen, damit ihn dieſer heraus-
ziehe; als ſie ſich unterwegs in den Eimern begegnen,
ſpricht der Fuchs die bekannten ſpoͤttiſchen Worte:
„ſo gehts in der Welt, der eine auf, der andere nie-
der!“ Dieſer Sack und Eimer ſind ferner wiederum
die Tonne, worin der kluge Mann von den dummen
Bauern erſaͤuft werden ſoll (ſ. I. 61. und Scarpafico
bei Straparola) der aber einem vorbeigehenden Hir-
ten weiß macht, daß wer ſich hinein lege, zu einer
Hochzeit und großen Wuͤrde abgeholt werden ſollte.
In allen dieſen Maͤrchen iſt der Wuͤnſchelſack oder
das Gluͤcksfaß von der komiſchen Seite dargeſtellt,
denn der Mythus wandelt gern den Ernſt in Schimpf
um. An die ernſthafte Seite erinnert aber unſer
Raparius am bedeutendſten: wie hier der Mann am
Baum haͤngend Weisheit lernt, ſchwebt der nordiſche
Weiſe in der Luft und lernt alle Wiſſenſchaft (Runa-
capituli)
veit ek, at ek hiek vindga meidi a
naͤtur allar niu.
(weiß ich, daß ich hing am winddurchwehten Baum
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. XXXXV[XLV]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/364>, abgerufen am 18.12.2024.
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