Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite

einen Raben, warum der andere so elend und krank
wäre, da sprach der kranke: "weil ich nichts thun
wollte und glaubte, die Nahrung käm doch vom
Himmel." Die beiden nahmen die Raben mit
sich in den nächsten Ort, der eine war munter und
suchte sich sein Futter, alle Morgen badete er sich
und putzte sich mit dem Schnabel, der andere
aber hockte in den Ecken herum, war verdrießlich
und sah immerfort struppig aus. Nach einer Zeit
hatte die Tochter des Hausherrn, die ein schönes
Mädchen war, den fleißigen Raben gar lieb,
nahm ihn von dem Boden auf, streichelte ihn mit
der Hand, endlich drückte sie ihn einmal an's Ge-
sicht und küßte ihn vor Vergnügen. Der Vogel
fiel zur Erde, wälzte sich und flatterte und ward
zu einem schönen jungen Mann. Da erzählte er,
der andere Rabe wär' sein Bruder und sie hätten
beide ihren Vater beleidigt, der hätte sie dafür
verwünscht und gesagt: "fliegt als Raben umher,
so lang, bis ein schönes Mädchen euch freiwillig
küßt." Also war der eine erlöst, aber den andern
trägen wollte niemand küssen und er starb als
Rabe. -- Bruder Liederlich nahm sich das zur
Lehre, ward fleißig und ordentlich und hielt sich
bei seinem Gesellen.

einen Raben, warum der andere ſo elend und krank
waͤre, da ſprach der kranke: „weil ich nichts thun
wollte und glaubte, die Nahrung kaͤm doch vom
Himmel.“ Die beiden nahmen die Raben mit
ſich in den naͤchſten Ort, der eine war munter und
ſuchte ſich ſein Futter, alle Morgen badete er ſich
und putzte ſich mit dem Schnabel, der andere
aber hockte in den Ecken herum, war verdrießlich
und ſah immerfort ſtruppig aus. Nach einer Zeit
hatte die Tochter des Hausherrn, die ein ſchoͤnes
Maͤdchen war, den fleißigen Raben gar lieb,
nahm ihn von dem Boden auf, ſtreichelte ihn mit
der Hand, endlich druͤckte ſie ihn einmal an’s Ge-
ſicht und kuͤßte ihn vor Vergnuͤgen. Der Vogel
fiel zur Erde, waͤlzte ſich und flatterte und ward
zu einem ſchoͤnen jungen Mann. Da erzaͤhlte er,
der andere Rabe waͤr’ ſein Bruder und ſie haͤtten
beide ihren Vater beleidigt, der haͤtte ſie dafuͤr
verwuͤnſcht und geſagt: „fliegt als Raben umher,
ſo lang, bis ein ſchoͤnes Maͤdchen euch freiwillig
kuͤßt.“ Alſo war der eine erloͤſt, aber den andern
traͤgen wollte niemand kuͤſſen und er ſtarb als
Rabe. — Bruder Liederlich nahm ſich das zur
Lehre, ward fleißig und ordentlich und hielt ſich
bei ſeinem Geſellen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0199" n="178"/>
einen Raben, warum der andere &#x017F;o elend und krank<lb/>
wa&#x0364;re, da &#x017F;prach der kranke: &#x201E;weil ich nichts thun<lb/>
wollte und glaubte, die Nahrung ka&#x0364;m doch vom<lb/>
Himmel.&#x201C; Die beiden nahmen die Raben mit<lb/>
&#x017F;ich in den na&#x0364;ch&#x017F;ten Ort, der eine war munter und<lb/>
&#x017F;uchte &#x017F;ich &#x017F;ein Futter, alle Morgen badete er &#x017F;ich<lb/>
und putzte &#x017F;ich mit dem Schnabel, der andere<lb/>
aber hockte in den Ecken herum, war verdrießlich<lb/>
und &#x017F;ah immerfort &#x017F;truppig aus. Nach einer Zeit<lb/>
hatte die Tochter des Hausherrn, die ein &#x017F;cho&#x0364;nes<lb/>
Ma&#x0364;dchen war, den fleißigen Raben gar lieb,<lb/>
nahm ihn von dem Boden auf, &#x017F;treichelte ihn mit<lb/>
der Hand, endlich dru&#x0364;ckte &#x017F;ie ihn einmal an&#x2019;s Ge-<lb/>
&#x017F;icht und ku&#x0364;ßte ihn vor Vergnu&#x0364;gen. Der Vogel<lb/>
fiel zur Erde, wa&#x0364;lzte &#x017F;ich und flatterte und ward<lb/>
zu einem &#x017F;cho&#x0364;nen jungen Mann. Da erza&#x0364;hlte er,<lb/>
der andere Rabe wa&#x0364;r&#x2019; &#x017F;ein Bruder und &#x017F;ie ha&#x0364;tten<lb/>
beide ihren Vater beleidigt, der ha&#x0364;tte &#x017F;ie dafu&#x0364;r<lb/>
verwu&#x0364;n&#x017F;cht und ge&#x017F;agt: &#x201E;fliegt als Raben umher,<lb/>
&#x017F;o lang, bis ein &#x017F;cho&#x0364;nes Ma&#x0364;dchen euch freiwillig<lb/>
ku&#x0364;ßt.&#x201C; Al&#x017F;o war der eine erlo&#x0364;&#x017F;t, aber den andern<lb/>
tra&#x0364;gen wollte niemand ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;en und er &#x017F;tarb als<lb/>
Rabe. &#x2014; Bruder Liederlich nahm &#x017F;ich das zur<lb/>
Lehre, ward fleißig und ordentlich und hielt &#x017F;ich<lb/>
bei &#x017F;einem Ge&#x017F;ellen.</p>
      </div><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0199] einen Raben, warum der andere ſo elend und krank waͤre, da ſprach der kranke: „weil ich nichts thun wollte und glaubte, die Nahrung kaͤm doch vom Himmel.“ Die beiden nahmen die Raben mit ſich in den naͤchſten Ort, der eine war munter und ſuchte ſich ſein Futter, alle Morgen badete er ſich und putzte ſich mit dem Schnabel, der andere aber hockte in den Ecken herum, war verdrießlich und ſah immerfort ſtruppig aus. Nach einer Zeit hatte die Tochter des Hausherrn, die ein ſchoͤnes Maͤdchen war, den fleißigen Raben gar lieb, nahm ihn von dem Boden auf, ſtreichelte ihn mit der Hand, endlich druͤckte ſie ihn einmal an’s Ge- ſicht und kuͤßte ihn vor Vergnuͤgen. Der Vogel fiel zur Erde, waͤlzte ſich und flatterte und ward zu einem ſchoͤnen jungen Mann. Da erzaͤhlte er, der andere Rabe waͤr’ ſein Bruder und ſie haͤtten beide ihren Vater beleidigt, der haͤtte ſie dafuͤr verwuͤnſcht und geſagt: „fliegt als Raben umher, ſo lang, bis ein ſchoͤnes Maͤdchen euch freiwillig kuͤßt.“ Alſo war der eine erloͤſt, aber den andern traͤgen wollte niemand kuͤſſen und er ſtarb als Rabe. — Bruder Liederlich nahm ſich das zur Lehre, ward fleißig und ordentlich und hielt ſich bei ſeinem Geſellen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/199
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/199>, abgerufen am 19.12.2024.