Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite
33.
Der Faule und der Fleißige.

Es waren einmal zwei Handwerkspursche, die
wanderten zusammen und gelobten bei einander
zu halten. Als sie aber in eine große Stadt ka-
men, ward der eine ein Bruder Liederlich, ver-
gaß sein Wort, verließ den andern und zog allein
fort, hin und her; wo's am tollsten zuging war's
ihm am liebsten. Der andere hielt seine Zeit
aus, arbeitete fleißig und wanderte hernach wei-
ter. Da kam er in der Nacht am Galgen vorbei,
ohne daß er's wußte, aber auf der Erde sah er
unten einen liegen und schlafen, der war dürftig
und blos, und weil es sternenhell war, erkannte
er seinen ehemaligen Gesellen. Da legte er sich
neben ihn, deckte seinen Mantel über ihn und
schlief ein. Es dauerte aber nicht lang, so wurde
er von zwei Stimmen aufgeweckt, die sprachen
mit einander, das waren zwei Raben, die saßen
oben auf dem Galgen. Der eine sprach: "Gott
ernährt!" der andere: "thu darnach!" und ei-
ner fiel nach den Worten matt herab zur Erde,
der andere blieb bei ihm sitzen und wartete bis
es Tag war, da holte er etwas Gewürm und Was-
ser, erfrischte ihn damit und erweckte ihn vom
Tod. Wie die beiden Handwerksburschen das
sahen, verwunderten sie sich und fragten den

Kindermährchen. II. M
33.
Der Faule und der Fleißige.

Es waren einmal zwei Handwerkspurſche, die
wanderten zuſammen und gelobten bei einander
zu halten. Als ſie aber in eine große Stadt ka-
men, ward der eine ein Bruder Liederlich, ver-
gaß ſein Wort, verließ den andern und zog allein
fort, hin und her; wo’s am tollſten zuging war’s
ihm am liebſten. Der andere hielt ſeine Zeit
aus, arbeitete fleißig und wanderte hernach wei-
ter. Da kam er in der Nacht am Galgen vorbei,
ohne daß er’s wußte, aber auf der Erde ſah er
unten einen liegen und ſchlafen, der war duͤrftig
und blos, und weil es ſternenhell war, erkannte
er ſeinen ehemaligen Geſellen. Da legte er ſich
neben ihn, deckte ſeinen Mantel uͤber ihn und
ſchlief ein. Es dauerte aber nicht lang, ſo wurde
er von zwei Stimmen aufgeweckt, die ſprachen
mit einander, das waren zwei Raben, die ſaßen
oben auf dem Galgen. Der eine ſprach: „Gott
ernaͤhrt!“ der andere: „thu darnach!“ und ei-
ner fiel nach den Worten matt herab zur Erde,
der andere blieb bei ihm ſitzen und wartete bis
es Tag war, da holte er etwas Gewuͤrm und Waſ-
ſer, erfriſchte ihn damit und erweckte ihn vom
Tod. Wie die beiden Handwerksburſchen das
ſahen, verwunderten ſie ſich und fragten den

Kindermährchen. II. M
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0198" n="177"/>
      <div n="1">
        <head>33.<lb/>
Der Faule und der Fleißige.</head><lb/>
        <p>Es waren einmal zwei Handwerkspur&#x017F;che, die<lb/>
wanderten zu&#x017F;ammen und gelobten bei einander<lb/>
zu halten. Als &#x017F;ie aber in eine große Stadt ka-<lb/>
men, ward der eine ein Bruder Liederlich, ver-<lb/>
gaß &#x017F;ein Wort, verließ den andern und zog allein<lb/>
fort, hin und her; wo&#x2019;s am toll&#x017F;ten zuging war&#x2019;s<lb/>
ihm am lieb&#x017F;ten. Der andere hielt &#x017F;eine Zeit<lb/>
aus, arbeitete fleißig und wanderte hernach wei-<lb/>
ter. Da kam er in der Nacht am Galgen vorbei,<lb/>
ohne daß er&#x2019;s wußte, aber auf der Erde &#x017F;ah er<lb/>
unten einen liegen und &#x017F;chlafen, der war du&#x0364;rftig<lb/>
und blos, und weil es &#x017F;ternenhell war, erkannte<lb/>
er &#x017F;einen ehemaligen Ge&#x017F;ellen. Da legte er &#x017F;ich<lb/>
neben ihn, deckte &#x017F;einen Mantel u&#x0364;ber ihn und<lb/>
&#x017F;chlief ein. Es dauerte aber nicht lang, &#x017F;o wurde<lb/>
er von zwei Stimmen aufgeweckt, die &#x017F;prachen<lb/>
mit einander, das waren zwei Raben, die &#x017F;aßen<lb/>
oben auf dem Galgen. Der eine &#x017F;prach: &#x201E;Gott<lb/>
erna&#x0364;hrt!&#x201C; der andere: &#x201E;thu darnach!&#x201C; und ei-<lb/>
ner fiel nach den Worten matt herab zur Erde,<lb/>
der andere blieb bei ihm &#x017F;itzen und wartete bis<lb/>
es Tag war, da holte er etwas Gewu&#x0364;rm und Wa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er, erfri&#x017F;chte ihn damit und erweckte ihn vom<lb/>
Tod. Wie die beiden Handwerksbur&#x017F;chen das<lb/>
&#x017F;ahen, verwunderten &#x017F;ie &#x017F;ich und fragten den<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Kindermährchen. <hi rendition="#aq">II.</hi> M</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0198] 33. Der Faule und der Fleißige. Es waren einmal zwei Handwerkspurſche, die wanderten zuſammen und gelobten bei einander zu halten. Als ſie aber in eine große Stadt ka- men, ward der eine ein Bruder Liederlich, ver- gaß ſein Wort, verließ den andern und zog allein fort, hin und her; wo’s am tollſten zuging war’s ihm am liebſten. Der andere hielt ſeine Zeit aus, arbeitete fleißig und wanderte hernach wei- ter. Da kam er in der Nacht am Galgen vorbei, ohne daß er’s wußte, aber auf der Erde ſah er unten einen liegen und ſchlafen, der war duͤrftig und blos, und weil es ſternenhell war, erkannte er ſeinen ehemaligen Geſellen. Da legte er ſich neben ihn, deckte ſeinen Mantel uͤber ihn und ſchlief ein. Es dauerte aber nicht lang, ſo wurde er von zwei Stimmen aufgeweckt, die ſprachen mit einander, das waren zwei Raben, die ſaßen oben auf dem Galgen. Der eine ſprach: „Gott ernaͤhrt!“ der andere: „thu darnach!“ und ei- ner fiel nach den Worten matt herab zur Erde, der andere blieb bei ihm ſitzen und wartete bis es Tag war, da holte er etwas Gewuͤrm und Waſ- ſer, erfriſchte ihn damit und erweckte ihn vom Tod. Wie die beiden Handwerksburſchen das ſahen, verwunderten ſie ſich und fragten den Kindermährchen. II. M

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/198
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/198>, abgerufen am 19.12.2024.