Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

als wäre es todt. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei: da fieng es an ein wenig zu athmen, und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten was geschehen war, sprachen sie, 'die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin: hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.'

Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, gieng vor den Spiegel und fragte

'Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die schönste im ganzen Land?'

Da antwortete er wie sonst

'Frau Königin, ihr seid die schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als ihr.'

Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrack sie, denn sie sah wohl daß Sneewittchen wieder lebendig geworden war. 'Nun aber,' sprach sie, 'will ich etwas aussinnen, das dich zu Grunde richten soll,' und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines andern alten Weibes an. So gieng sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Thüre, und rief 'gute Waare feil! feil!' Sneewittchen schaute heraus und sprach 'geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen.' 'Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein' sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich bethören ließ und die Thüre öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte 'nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.' Das arme Sneewittchen dachte an nichts, und ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm

als wäre es todt. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei: da fieng es an ein wenig zu athmen, und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten was geschehen war, sprachen sie, ‘die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin: hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.’

Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, gieng vor den Spiegel und fragte

‘Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die schönste im ganzen Land?’

Da antwortete er wie sonst

‘Frau Königin, ihr seid die schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als ihr.’

Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrack sie, denn sie sah wohl daß Sneewittchen wieder lebendig geworden war. ‘Nun aber,’ sprach sie, ‘will ich etwas aussinnen, das dich zu Grunde richten soll,’ und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines andern alten Weibes an. So gieng sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Thüre, und rief ‘gute Waare feil! feil!’ Sneewittchen schaute heraus und sprach ‘geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen.’ ‘Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein’ sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich bethören ließ und die Thüre öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte ‘nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.’ Das arme Sneewittchen dachte an nichts, und ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0302" n="269"/>
als wäre es todt. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei: da fieng es an ein wenig zu athmen, und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten was geschehen war, sprachen sie, &#x2018;die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin: hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.&#x2019;</p><lb/>
        <p>Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, gieng vor den Spiegel und fragte</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Spieglein, Spieglein an der Wand,</l><lb/>
          <l>wer ist die schönste im ganzen Land?&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>Da antwortete er wie sonst</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Frau Königin, ihr seid die schönste hier,</l><lb/>
          <l>aber Sneewittchen über den Bergen</l><lb/>
          <l>bei den sieben Zwergen</l><lb/>
          <l>ist noch tausendmal schöner als ihr.&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrack sie, denn sie sah wohl daß Sneewittchen wieder lebendig geworden war. &#x2018;Nun aber,&#x2019; sprach sie, &#x2018;will ich etwas aussinnen, das dich zu Grunde richten soll,&#x2019; und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines andern alten Weibes an. So gieng sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Thüre, und rief &#x2018;gute Waare feil! feil!&#x2019; Sneewittchen schaute heraus und sprach &#x2018;geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen.&#x2019; &#x2018;Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein&#x2019; sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich bethören ließ und die Thüre öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte &#x2018;nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.&#x2019; Das arme Sneewittchen dachte an nichts, und ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[269/0302] als wäre es todt. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei: da fieng es an ein wenig zu athmen, und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten was geschehen war, sprachen sie, ‘die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin: hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.’ Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, gieng vor den Spiegel und fragte ‘Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?’ Da antwortete er wie sonst ‘Frau Königin, ihr seid die schönste hier, aber Sneewittchen über den Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als ihr.’ Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrack sie, denn sie sah wohl daß Sneewittchen wieder lebendig geworden war. ‘Nun aber,’ sprach sie, ‘will ich etwas aussinnen, das dich zu Grunde richten soll,’ und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines andern alten Weibes an. So gieng sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Thüre, und rief ‘gute Waare feil! feil!’ Sneewittchen schaute heraus und sprach ‘geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen.’ ‘Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein’ sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich bethören ließ und die Thüre öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte ‘nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.’ Das arme Sneewittchen dachte an nichts, und ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Google Books (University of Oxford, Taylor Institution Library): Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-03T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1857/302
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1857, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1857/302>, abgerufen am 22.11.2024.