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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

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Augenblick waren die zwölf Brüder in zwölf Raben verwandelt, und flogen über den Wald hin fort, und das Haus mit dem Garten war auch verschwunden. Da war nun das arme Mädchen allein in dem wilden Wald, und wie es sich umfah, so stand eine alte Frau neben ihm, die sprach 'mein Kind, was hast du angefangen? warum hast du die zwölf weißen Blumen nicht stehen lassen, das waren deine Brüder, die sind nun auf immer in Raben verwandelt.' Das Mädchen sprach weinend 'ist denn kein Mittel, sie zu erlösen?' 'Nein,' sagte die Alte, 'es ist keins auf der ganzen Welt, als eins, das ist aber so schwer, daß du sie damit nicht befreien wirst, denn du mußt sieben Jahre stumm seyn, darfst nicht sprechen und nicht lachen, und sprichst du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst, und deine Brüder werden von deinem Wort getödtet.'

Da sprach das Mädchen in seinem Herzen 'ich will meine Brüder gewiß erlösen,' und gieng und suchte einen hohen Baum, setzte sich darauf, und spann, und sprach nicht, und lachte nicht. Nun trugs sich zu, daß ein König in dem Wald jagte, der hatte einen großen Windhund, der lief zu dem Baum, wo das Mädchen drauf saß, sprang herum, schrie und bellte hinauf. Da kam der König herbei, und sah die schöne Königstochter mit dem goldnen Stern auf der Stirne, und war so entzückt über ihre Schönheit, daß er ihr zurief ob sie seine Gemahlin werden wollte. Sie gab keine Antwort, nickte aber ein wenig mit dem Kopf. Da stieg er selbst auf den Baum, trug sie

Augenblick waren die zwoͤlf Bruͤder in zwoͤlf Raben verwandelt, und flogen uͤber den Wald hin fort, und das Haus mit dem Garten war auch verschwunden. Da war nun das arme Maͤdchen allein in dem wilden Wald, und wie es sich umfah, so stand eine alte Frau neben ihm, die sprach ‘mein Kind, was hast du angefangen? warum hast du die zwoͤlf weißen Blumen nicht stehen lassen, das waren deine Bruͤder, die sind nun auf immer in Raben verwandelt.’ Das Maͤdchen sprach weinend ‘ist denn kein Mittel, sie zu erloͤsen?’ ‘Nein,’ sagte die Alte, ‘es ist keins auf der ganzen Welt, als eins, das ist aber so schwer, daß du sie damit nicht befreien wirst, denn du mußt sieben Jahre stumm seyn, darfst nicht sprechen und nicht lachen, und sprichst du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst, und deine Bruͤder werden von deinem Wort getoͤdtet.’

Da sprach das Maͤdchen in seinem Herzen ‘ich will meine Bruͤder gewiß erloͤsen,’ und gieng und suchte einen hohen Baum, setzte sich darauf, und spann, und sprach nicht, und lachte nicht. Nun trugs sich zu, daß ein Koͤnig in dem Wald jagte, der hatte einen großen Windhund, der lief zu dem Baum, wo das Maͤdchen drauf saß, sprang herum, schrie und bellte hinauf. Da kam der Koͤnig herbei, und sah die schoͤne Koͤnigstochter mit dem goldnen Stern auf der Stirne, und war so entzuͤckt uͤber ihre Schoͤnheit, daß er ihr zurief ob sie seine Gemahlin werden wollte. Sie gab keine Antwort, nickte aber ein wenig mit dem Kopf. Da stieg er selbst auf den Baum, trug sie

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[61/0092] Augenblick waren die zwoͤlf Bruͤder in zwoͤlf Raben verwandelt, und flogen uͤber den Wald hin fort, und das Haus mit dem Garten war auch verschwunden. Da war nun das arme Maͤdchen allein in dem wilden Wald, und wie es sich umfah, so stand eine alte Frau neben ihm, die sprach ‘mein Kind, was hast du angefangen? warum hast du die zwoͤlf weißen Blumen nicht stehen lassen, das waren deine Bruͤder, die sind nun auf immer in Raben verwandelt.’ Das Maͤdchen sprach weinend ‘ist denn kein Mittel, sie zu erloͤsen?’ ‘Nein,’ sagte die Alte, ‘es ist keins auf der ganzen Welt, als eins, das ist aber so schwer, daß du sie damit nicht befreien wirst, denn du mußt sieben Jahre stumm seyn, darfst nicht sprechen und nicht lachen, und sprichst du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst, und deine Bruͤder werden von deinem Wort getoͤdtet.’ Da sprach das Maͤdchen in seinem Herzen ‘ich will meine Bruͤder gewiß erloͤsen,’ und gieng und suchte einen hohen Baum, setzte sich darauf, und spann, und sprach nicht, und lachte nicht. Nun trugs sich zu, daß ein Koͤnig in dem Wald jagte, der hatte einen großen Windhund, der lief zu dem Baum, wo das Maͤdchen drauf saß, sprang herum, schrie und bellte hinauf. Da kam der Koͤnig herbei, und sah die schoͤne Koͤnigstochter mit dem goldnen Stern auf der Stirne, und war so entzuͤckt uͤber ihre Schoͤnheit, daß er ihr zurief ob sie seine Gemahlin werden wollte. Sie gab keine Antwort, nickte aber ein wenig mit dem Kopf. Da stieg er selbst auf den Baum, trug sie

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/92>, abgerufen am 27.04.2024.