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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

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konnte nur ein paar Schritte gehen. Dann aber rüttelte sie die Grethel aus dem Schlaf, und rief 'steh auf, du Faullenzerin, hol Wasser, und geh in die Küche, und koch was gutes zu Essen, dort steckt dein Bruder in einem Stall, den will ich erst fett machen, und wenn er fett ist, dann will ich ihn essen; jetzt sollst du ihn füttern.' Grethel erschrack und weinte, mußte aber thun was die böse Hexe verlangte. Da ward nun alle Tage dem Hänsel das beste Essen gekocht, daß er fett werden sollte: Grethel aber bekam nichts, als die Krebsschalen. Alle Tage kam die Alte und sagte 'Hänsel, streck deine Finger heraus, daß ich fühle ob du bald fett genug bist.' Hänsel streckte ihr aber immer statt des Fingers ein Knöchlein heraus: da verwunderte sie sich daß er so mager blieb, und gar nicht zunehmen wollte.

Nach vier Wochen sagte sie eines Abends zu Grethel 'sey flink, geh und trag Wasser herbei, dein Brüderchen mag nun fett sein oder nicht, morgen will ich es schlachten und sieden; ich will derweile den Teig anmachen, daß wir auch dazu backen können.' Da gieng Grethel mit traurigem Herzen, und trug das Wasser, worin Hänsel sollte gesotten werden. Früh Morgens mußte Grethel aufstehen, Feuer anzünden, und den Kessel mit Wasser aufhängen. 'Gieb nun Acht,' sagte die Hexe, 'ich will Feuer in den Backofen machen, und das Brot hineinschieben.' Grethel stand in der Küche, und weinte blutige Thränen, und dachte 'hätten uns lieber die wilden Thiere im Walde gefressen, so wären wir zusammen gestorben, und müßten nun nicht das Herzeleid tragen: und ich müßte nicht selber das

konnte nur ein paar Schritte gehen. Dann aber ruͤttelte sie die Grethel aus dem Schlaf, und rief ‘steh auf, du Faullenzerin, hol Wasser, und geh in die Kuͤche, und koch was gutes zu Essen, dort steckt dein Bruder in einem Stall, den will ich erst fett machen, und wenn er fett ist, dann will ich ihn essen; jetzt sollst du ihn fuͤttern.’ Grethel erschrack und weinte, mußte aber thun was die boͤse Hexe verlangte. Da ward nun alle Tage dem Haͤnsel das beste Essen gekocht, daß er fett werden sollte: Grethel aber bekam nichts, als die Krebsschalen. Alle Tage kam die Alte und sagte ‘Haͤnsel, streck deine Finger heraus, daß ich fuͤhle ob du bald fett genug bist.’ Haͤnsel streckte ihr aber immer statt des Fingers ein Knoͤchlein heraus: da verwunderte sie sich daß er so mager blieb, und gar nicht zunehmen wollte.

Nach vier Wochen sagte sie eines Abends zu Grethel ‘sey flink, geh und trag Wasser herbei, dein Bruͤderchen mag nun fett sein oder nicht, morgen will ich es schlachten und sieden; ich will derweile den Teig anmachen, daß wir auch dazu backen koͤnnen.’ Da gieng Grethel mit traurigem Herzen, und trug das Wasser, worin Haͤnsel sollte gesotten werden. Fruͤh Morgens mußte Grethel aufstehen, Feuer anzuͤnden, und den Kessel mit Wasser aufhaͤngen. ‘Gieb nun Acht,’ sagte die Hexe, ‘ich will Feuer in den Backofen machen, und das Brot hineinschieben.’ Grethel stand in der Kuͤche, und weinte blutige Thraͤnen, und dachte ‘haͤtten uns lieber die wilden Thiere im Walde gefressen, so waͤren wir zusammen gestorben, und muͤßten nun nicht das Herzeleid tragen: und ich muͤßte nicht selber das

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/130>, abgerufen am 05.05.2024.