Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.Alte geschwind 'bei Leibe, laßt die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht ins Licht sehen, und muß Ruhe haben.' Der König gieng zurück, und wußte nicht daß eine falsche Königin im Bette lag. Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie die Thüre aufgieng, und die rechte Königin herein trat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm, und gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm sein Kißchen, und legte es wieder hinein, und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, gieng in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm über den Rücken. Darauf gieng sie ganz stillschweigend wieder zur Thüre hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Wächter ob jemand während der Nacht ins Schloß gegangen wäre; aber sie antworteten 'nein, wir haben niemand gesehen.' So kam sie viele Nächte, und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute nicht jemand etwas davon zu sagen. Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Königin in der Nacht an zu reden und sprach 'was macht mein Kind? was macht mein Reh? Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr.' Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, gieng sie zum König und erzählte ihm alles. Sprach der König 'Ach Gott, was ist das! ich will in der Alte geschwind ‘bei Leibe, laßt die Vorhaͤnge zu, die Koͤnigin darf noch nicht ins Licht sehen, und muß Ruhe haben.’ Der Koͤnig gieng zuruͤck, und wußte nicht daß eine falsche Koͤnigin im Bette lag. Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie die Thuͤre aufgieng, und die rechte Koͤnigin herein trat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm, und gab ihm zu trinken. Dann schuͤttelte sie ihm sein Kißchen, und legte es wieder hinein, und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, gieng in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm uͤber den Ruͤcken. Darauf gieng sie ganz stillschweigend wieder zur Thuͤre hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Waͤchter ob jemand waͤhrend der Nacht ins Schloß gegangen waͤre; aber sie antworteten ‘nein, wir haben niemand gesehen.’ So kam sie viele Naͤchte, und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute nicht jemand etwas davon zu sagen. Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Koͤnigin in der Nacht an zu reden und sprach ‘was macht mein Kind? was macht mein Reh? Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr.’ Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, gieng sie zum Koͤnig und erzaͤhlte ihm alles. Sprach der Koͤnig ‘Ach Gott, was ist das! ich will in der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0105" n="74"/> Alte geschwind ‘bei Leibe, laßt die Vorhaͤnge zu, die Koͤnigin darf noch nicht ins Licht sehen, und muß Ruhe haben.’ Der Koͤnig gieng zuruͤck, und wußte nicht daß eine falsche Koͤnigin im Bette lag.</p><lb/> <p>Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie die Thuͤre aufgieng, und die rechte Koͤnigin herein trat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm, und gab ihm zu trinken. Dann schuͤttelte sie ihm sein Kißchen, und legte es wieder hinein, und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, gieng in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm uͤber den Ruͤcken. Darauf gieng sie ganz stillschweigend wieder zur Thuͤre hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Waͤchter ob jemand waͤhrend der Nacht ins Schloß gegangen waͤre; aber sie antworteten ‘nein, wir haben niemand gesehen.’ So kam sie viele Naͤchte, und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute nicht jemand etwas davon zu sagen.</p><lb/> <p>Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Koͤnigin in der Nacht an zu reden und sprach</p><lb/> <lg type="poem"> <l>‘was macht mein Kind? was macht mein Reh?</l><lb/> <l>Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr.’</l><lb/> </lg> <p>Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, gieng sie zum Koͤnig und erzaͤhlte ihm alles. Sprach der Koͤnig ‘Ach Gott, was ist das! ich will in der </p> </div> </body> </text> </TEI> [74/0105]
Alte geschwind ‘bei Leibe, laßt die Vorhaͤnge zu, die Koͤnigin darf noch nicht ins Licht sehen, und muß Ruhe haben.’ Der Koͤnig gieng zuruͤck, und wußte nicht daß eine falsche Koͤnigin im Bette lag.
Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie die Thuͤre aufgieng, und die rechte Koͤnigin herein trat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm, und gab ihm zu trinken. Dann schuͤttelte sie ihm sein Kißchen, und legte es wieder hinein, und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, gieng in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm uͤber den Ruͤcken. Darauf gieng sie ganz stillschweigend wieder zur Thuͤre hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Waͤchter ob jemand waͤhrend der Nacht ins Schloß gegangen waͤre; aber sie antworteten ‘nein, wir haben niemand gesehen.’ So kam sie viele Naͤchte, und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute nicht jemand etwas davon zu sagen.
Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Koͤnigin in der Nacht an zu reden und sprach
‘was macht mein Kind? was macht mein Reh?
Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr.’
Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, gieng sie zum Koͤnig und erzaͤhlte ihm alles. Sprach der Koͤnig ‘Ach Gott, was ist das! ich will in der
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