Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite
wenn ich steh bey des Kranken Füßen
so wird derselbig sterben müssen,
alsdann so nim dich sein nicht an,
sichstu mich aber beym Kopfen stahn etc.
zum Schein der Arzenei solle er nur zwei schlechte
Aepfelkern in Brot gesteckt eingeben. Dem Bauer
gelingts damit, aber zuletzt holt der Tod seinen
Gevatter selbst.
Dieselbe Fabel, jedoch mit eigenthümlichen Ab-
weichungen (worunter die beste, daß nicht der
Vater, sondern das neugeborene Kind selbst die
Doctorgabe empfängt), erzählt Prätorius im
Glückstopf 1669. S. 147 -- 149.
Aus heutiger Volkssage aufgenommen aber
weitläuftig behandelt, steht sie in G. Schillings
neuen Abendgenossen III. 145 -- 286. Wie bei
Ayrer ist nicht der Pathe, sondern der Vater selbst
Doctor. Merkwürdig ist der gewiß echte Schluß:
der überlistete Tod, um sich zu rächen, führt den
Gevattersmann in die Lichterhöhle, für Kinder
brennen große, für Eheleute halbe, für Greise
kleine. Des Gevatters eignes Lebenslicht ist nur
ein kleines Endchen noch; da bittet er den Tod,
ein neues anzuzünden, welches aber nicht geht,
da eins erlöschen muß, eh ein neues anbrennt;
also bittet er, unten anzusetzen, damit es gleich
fortbrennen könne. Der Tod thut, als willigte
er ein, langt ein großes frisches Licht, versieht
es aber absichtlich beim Unterstecken, daß das
Stückchen umfällt und lischt. Damit fällt der
Gevatter hin und ist todt. (Diese Lichter, woran
das Leben gebunden wird, erinnern an den Nor-
nengast und die noch gangbare Redensart vom
"Ausblasen des Lichts, der Lebenskerze" für: um-
bringen.)
Alles in diesem Märchen weist auf sehr tieflie-
gende Ideen hin. Der Tod und der Teufel
sind die bösen Gottheiten und beide nur eine, wie
die Hölle die Unterwelt und das Todtenreich, da-
her im Märchen vom Schmiedt auch beide nach
einander auftreten. Aber der böse heißt wie der
gute Gott, Vater und Tatta. Der Gevatter
nicht blos Vater, sondern auch Pathe, Goth
wenn ich ſteh bey des Kranken Fuͤßen
ſo wird derſelbig ſterben muͤſſen,
alsdann ſo nim dich ſein nicht an,
ſichſtu mich aber beym Kopfen ſtahn ꝛc.
zum Schein der Arzenei ſolle er nur zwei ſchlechte
Aepfelkern in Brot geſteckt eingeben. Dem Bauer
gelingts damit, aber zuletzt holt der Tod ſeinen
Gevatter ſelbſt.
Dieſelbe Fabel, jedoch mit eigenthuͤmlichen Ab-
weichungen (worunter die beſte, daß nicht der
Vater, ſondern das neugeborene Kind ſelbſt die
Doctorgabe empfaͤngt), erzaͤhlt Praͤtorius im
Gluͤckstopf 1669. S. 147 — 149.
Aus heutiger Volksſage aufgenommen aber
weitlaͤuftig behandelt, ſteht ſie in G. Schillings
neuen Abendgenoſſen III. 145 — 286. Wie bei
Ayrer iſt nicht der Pathe, ſondern der Vater ſelbſt
Doctor. Merkwuͤrdig iſt der gewiß echte Schluß:
der uͤberliſtete Tod, um ſich zu raͤchen, fuͤhrt den
Gevattersmann in die Lichterhoͤhle, fuͤr Kinder
brennen große, fuͤr Eheleute halbe, fuͤr Greiſe
kleine. Des Gevatters eignes Lebenslicht iſt nur
ein kleines Endchen noch; da bittet er den Tod,
ein neues anzuzuͤnden, welches aber nicht geht,
da eins erloͤſchen muß, eh ein neues anbrennt;
alſo bittet er, unten anzuſetzen, damit es gleich
fortbrennen koͤnne. Der Tod thut, als willigte
er ein, langt ein großes friſches Licht, verſieht
es aber abſichtlich beim Unterſtecken, daß das
Stuͤckchen umfaͤllt und liſcht. Damit faͤllt der
Gevatter hin und iſt todt. (Dieſe Lichter, woran
das Leben gebunden wird, erinnern an den Nor-
nengaſt und die noch gangbare Redensart vom
„Ausblaſen des Lichts, der Lebenskerze“ fuͤr: um-
bringen.)
Alles in dieſem Maͤrchen weiſt auf ſehr tieflie-
gende Ideen hin. Der Tod und der Teufel
ſind die boͤſen Gottheiten und beide nur eine, wie
die Hoͤlle die Unterwelt und das Todtenreich, da-
her im Maͤrchen vom Schmiedt auch beide nach
einander auftreten. Aber der boͤſe heißt wie der
gute Gott, Vater und Tatta. Der Gevatter
nicht blos Vater, ſondern auch Pathe, Goth
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <list>
            <item><lg type="poem"><l><pb facs="#f0487" n="LXV"/></l><l>wenn ich &#x017F;teh bey des Kranken Fu&#x0364;ßen</l><lb/><l>&#x017F;o wird der&#x017F;elbig &#x017F;terben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/><l>alsdann &#x017F;o nim dich &#x017F;ein nicht an,</l><lb/><l>&#x017F;ich&#x017F;tu mich aber beym Kopfen &#x017F;tahn &#xA75B;c.</l></lg><lb/>
zum Schein der Arzenei &#x017F;olle er nur zwei &#x017F;chlechte<lb/>
Aepfelkern in Brot ge&#x017F;teckt eingeben. Dem Bauer<lb/>
gelingts damit, aber zuletzt holt der Tod &#x017F;einen<lb/>
Gevatter &#x017F;elb&#x017F;t.<lb/>
Die&#x017F;elbe Fabel, jedoch mit eigenthu&#x0364;mlichen Ab-<lb/>
weichungen (worunter die be&#x017F;te, daß nicht der<lb/>
Vater, &#x017F;ondern das neugeborene Kind &#x017F;elb&#x017F;t die<lb/>
Doctorgabe empfa&#x0364;ngt), erza&#x0364;hlt Pra&#x0364;torius im<lb/>
Glu&#x0364;ckstopf 1669. S. 147 &#x2014; 149.<lb/>
Aus heutiger Volks&#x017F;age aufgenommen aber<lb/>
weitla&#x0364;uftig behandelt, &#x017F;teht &#x017F;ie in G. Schillings<lb/>
neuen Abendgeno&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#aq">III.</hi> 145 &#x2014; 286. Wie bei<lb/>
Ayrer i&#x017F;t nicht der Pathe, &#x017F;ondern der Vater &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
Doctor. Merkwu&#x0364;rdig i&#x017F;t der gewiß echte Schluß:<lb/>
der u&#x0364;berli&#x017F;tete Tod, um &#x017F;ich zu ra&#x0364;chen, fu&#x0364;hrt den<lb/>
Gevattersmann in die Lichterho&#x0364;hle, fu&#x0364;r Kinder<lb/>
brennen große, fu&#x0364;r Eheleute halbe, fu&#x0364;r Grei&#x017F;e<lb/>
kleine. Des Gevatters eignes Lebenslicht i&#x017F;t nur<lb/>
ein kleines Endchen noch; da bittet er den Tod,<lb/>
ein neues anzuzu&#x0364;nden, welches aber nicht geht,<lb/>
da eins erlo&#x0364;&#x017F;chen muß, eh ein neues anbrennt;<lb/>
al&#x017F;o bittet er, unten anzu&#x017F;etzen, damit es gleich<lb/>
fortbrennen ko&#x0364;nne. Der Tod thut, als willigte<lb/>
er ein, langt ein großes fri&#x017F;ches Licht, ver&#x017F;ieht<lb/>
es aber ab&#x017F;ichtlich beim Unter&#x017F;tecken, daß das<lb/>
Stu&#x0364;ckchen umfa&#x0364;llt und li&#x017F;cht. Damit fa&#x0364;llt der<lb/>
Gevatter hin und i&#x017F;t todt. (Die&#x017F;e Lichter, woran<lb/>
das Leben gebunden wird, erinnern an den Nor-<lb/>
nenga&#x017F;t und die noch gangbare Redensart vom<lb/>
&#x201E;Ausbla&#x017F;en des Lichts, der Lebenskerze&#x201C; fu&#x0364;r: um-<lb/>
bringen.)<lb/>
Alles in die&#x017F;em Ma&#x0364;rchen wei&#x017F;t auf &#x017F;ehr tieflie-<lb/>
gende Ideen hin. Der <hi rendition="#g">Tod</hi> und der <hi rendition="#g">Teufel</hi><lb/>
&#x017F;ind die bo&#x0364;&#x017F;en Gottheiten und beide nur eine, wie<lb/>
die Ho&#x0364;lle die Unterwelt und das Todtenreich, da-<lb/>
her im Ma&#x0364;rchen vom Schmiedt auch beide nach<lb/>
einander auftreten. Aber der bo&#x0364;&#x017F;e heißt wie der<lb/>
gute <hi rendition="#g">Gott, Vater</hi> und <hi rendition="#g">Tatta</hi>. Der Gevatter<lb/>
nicht blos <hi rendition="#g">Vater</hi>, &#x017F;ondern auch <hi rendition="#g">Pathe, Goth</hi><lb/></item>
          </list>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[LXV/0487] wenn ich ſteh bey des Kranken Fuͤßen ſo wird derſelbig ſterben muͤſſen, alsdann ſo nim dich ſein nicht an, ſichſtu mich aber beym Kopfen ſtahn ꝛc. zum Schein der Arzenei ſolle er nur zwei ſchlechte Aepfelkern in Brot geſteckt eingeben. Dem Bauer gelingts damit, aber zuletzt holt der Tod ſeinen Gevatter ſelbſt. Dieſelbe Fabel, jedoch mit eigenthuͤmlichen Ab- weichungen (worunter die beſte, daß nicht der Vater, ſondern das neugeborene Kind ſelbſt die Doctorgabe empfaͤngt), erzaͤhlt Praͤtorius im Gluͤckstopf 1669. S. 147 — 149. Aus heutiger Volksſage aufgenommen aber weitlaͤuftig behandelt, ſteht ſie in G. Schillings neuen Abendgenoſſen III. 145 — 286. Wie bei Ayrer iſt nicht der Pathe, ſondern der Vater ſelbſt Doctor. Merkwuͤrdig iſt der gewiß echte Schluß: der uͤberliſtete Tod, um ſich zu raͤchen, fuͤhrt den Gevattersmann in die Lichterhoͤhle, fuͤr Kinder brennen große, fuͤr Eheleute halbe, fuͤr Greiſe kleine. Des Gevatters eignes Lebenslicht iſt nur ein kleines Endchen noch; da bittet er den Tod, ein neues anzuzuͤnden, welches aber nicht geht, da eins erloͤſchen muß, eh ein neues anbrennt; alſo bittet er, unten anzuſetzen, damit es gleich fortbrennen koͤnne. Der Tod thut, als willigte er ein, langt ein großes friſches Licht, verſieht es aber abſichtlich beim Unterſtecken, daß das Stuͤckchen umfaͤllt und liſcht. Damit faͤllt der Gevatter hin und iſt todt. (Dieſe Lichter, woran das Leben gebunden wird, erinnern an den Nor- nengaſt und die noch gangbare Redensart vom „Ausblaſen des Lichts, der Lebenskerze“ fuͤr: um- bringen.) Alles in dieſem Maͤrchen weiſt auf ſehr tieflie- gende Ideen hin. Der Tod und der Teufel ſind die boͤſen Gottheiten und beide nur eine, wie die Hoͤlle die Unterwelt und das Todtenreich, da- her im Maͤrchen vom Schmiedt auch beide nach einander auftreten. Aber der boͤſe heißt wie der gute Gott, Vater und Tatta. Der Gevatter nicht blos Vater, ſondern auch Pathe, Goth

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/487
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. LXV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/487>, abgerufen am 17.05.2024.