Dies Märchen gehört zu den bekanntesten, doch wird in Gegenden, wo bestimmt hochdeutsch herrscht, der plattdeutsche Namen beibehalten, oder auch verdorben in Schliwitchen. Im Ein- gang fällt es mit dem Märchen vom Machandel- baum zusammen, noch näher in einer andern Re- cension, wo sich die Königin, indem sie mit dem König auf einem Jagdschlitten fährt, einen Apfel schält und dabei in den Finger schneidet. Noch ein anderer Eingang ist folgender; Ein Graf und eine Gräfin fuhren an drei Haufen weißem Schnee vorbei, da sagte der Graf: "ich wünsche mir ein Mädchen, so weiß als dieser Schnee." Bald darauf kamen sie an drei Gruben rothes Bluts, da sprach er wieder: "ich wünsche mir ein Mäd- chen, so roth an den Wangen, wie dies Blut." Endlich flogen drei schwarze Raben vorüber, da wünschte er sich ein Mädchen: "das Haare hat so schwarz, wie diese Raben." Als sie noch eine Weile gefahren, begegnete ihnen ein Mädchen, so weiß wie Schnee, so roth wie Blut und so schwarzhaarig, wie die Raben und das war das Sneewittchen. Der Graf ließ es gleich in die Kutsche sitzen und hatte es lieb, die Gräfin aber sah es nicht gern und dachte nur, wie sie es wie- der los werden könnte. Endlich ließ sie ihren Handschuh hinausfallen, und befahl dem Snee- wittchen ihn wieder zu suchen, in der Zeit aber mußte der Kutscher geschwind fortfahren; nun ist Sneewittchen allein und kommt zu den Zwergen u. s. w. In einer andern Erzählung, ist das bloß abweichend, daß die Königin mit dem Snee- wittchen in den Wald fährt, und es bittet ihm von den schönen Rosen, die da stehen, einen Strauß abzubrechen, während es bricht, fährt sie fort und läßt es allein. Endlich kennen wir noch eine dritte Recension: Ein König verliert seine Gemahlin, mit der er eine einzige Tochter Snee- wittchen hat und nimmt eine andere, mit der er drei Töchter bekommt. Diese haßt das Stiefkind, auch wegen seiner wunderbaren Schönheit, und
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Zu Sneewittchen. No. 53.
Dies Maͤrchen gehoͤrt zu den bekannteſten, doch wird in Gegenden, wo beſtimmt hochdeutſch herrſcht, der plattdeutſche Namen beibehalten, oder auch verdorben in Schliwitchen. Im Ein- gang faͤllt es mit dem Maͤrchen vom Machandel- baum zuſammen, noch naͤher in einer andern Re- cenſion, wo ſich die Koͤnigin, indem ſie mit dem Koͤnig auf einem Jagdſchlitten faͤhrt, einen Apfel ſchaͤlt und dabei in den Finger ſchneidet. Noch ein anderer Eingang iſt folgender; Ein Graf und eine Graͤfin fuhren an drei Haufen weißem Schnee vorbei, da ſagte der Graf: „ich wuͤnſche mir ein Maͤdchen, ſo weiß als dieſer Schnee.“ Bald darauf kamen ſie an drei Gruben rothes Bluts, da ſprach er wieder: „ich wuͤnſche mir ein Maͤd- chen, ſo roth an den Wangen, wie dies Blut.“ Endlich flogen drei ſchwarze Raben voruͤber, da wuͤnſchte er ſich ein Maͤdchen: „das Haare hat ſo ſchwarz, wie dieſe Raben.“ Als ſie noch eine Weile gefahren, begegnete ihnen ein Maͤdchen, ſo weiß wie Schnee, ſo roth wie Blut und ſo ſchwarzhaarig, wie die Raben und das war das Sneewittchen. Der Graf ließ es gleich in die Kutſche ſitzen und hatte es lieb, die Graͤfin aber ſah es nicht gern und dachte nur, wie ſie es wie- der los werden koͤnnte. Endlich ließ ſie ihren Handſchuh hinausfallen, und befahl dem Snee- wittchen ihn wieder zu ſuchen, in der Zeit aber mußte der Kutſcher geſchwind fortfahren; nun iſt Sneewittchen allein und kommt zu den Zwergen u. ſ. w. In einer andern Erzaͤhlung, iſt das bloß abweichend, daß die Koͤnigin mit dem Snee- wittchen in den Wald faͤhrt, und es bittet ihm von den ſchoͤnen Roſen, die da ſtehen, einen Strauß abzubrechen, waͤhrend es bricht, faͤhrt ſie fort und laͤßt es allein. Endlich kennen wir noch eine dritte Recenſion: Ein Koͤnig verliert ſeine Gemahlin, mit der er eine einzige Tochter Snee- wittchen hat und nimmt eine andere, mit der er drei Toͤchter bekommt. Dieſe haßt das Stiefkind, auch wegen ſeiner wunderbaren Schoͤnheit, und
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[XXXII/0454]
Zu Sneewittchen. No. 53.
Dies Maͤrchen gehoͤrt zu den bekannteſten,
doch wird in Gegenden, wo beſtimmt hochdeutſch
herrſcht, der plattdeutſche Namen beibehalten,
oder auch verdorben in Schliwitchen. Im Ein-
gang faͤllt es mit dem Maͤrchen vom Machandel-
baum zuſammen, noch naͤher in einer andern Re-
cenſion, wo ſich die Koͤnigin, indem ſie mit dem
Koͤnig auf einem Jagdſchlitten faͤhrt, einen Apfel
ſchaͤlt und dabei in den Finger ſchneidet. Noch
ein anderer Eingang iſt folgender; Ein Graf und
eine Graͤfin fuhren an drei Haufen weißem Schnee
vorbei, da ſagte der Graf: „ich wuͤnſche mir ein
Maͤdchen, ſo weiß als dieſer Schnee.“ Bald
darauf kamen ſie an drei Gruben rothes Bluts,
da ſprach er wieder: „ich wuͤnſche mir ein Maͤd-
chen, ſo roth an den Wangen, wie dies Blut.“
Endlich flogen drei ſchwarze Raben voruͤber, da
wuͤnſchte er ſich ein Maͤdchen: „das Haare hat ſo
ſchwarz, wie dieſe Raben.“ Als ſie noch eine
Weile gefahren, begegnete ihnen ein Maͤdchen, ſo
weiß wie Schnee, ſo roth wie Blut und ſo
ſchwarzhaarig, wie die Raben und das war das
Sneewittchen. Der Graf ließ es gleich in die
Kutſche ſitzen und hatte es lieb, die Graͤfin aber
ſah es nicht gern und dachte nur, wie ſie es wie-
der los werden koͤnnte. Endlich ließ ſie ihren
Handſchuh hinausfallen, und befahl dem Snee-
wittchen ihn wieder zu ſuchen, in der Zeit aber
mußte der Kutſcher geſchwind fortfahren; nun iſt
Sneewittchen allein und kommt zu den Zwergen
u. ſ. w. In einer andern Erzaͤhlung, iſt das
bloß abweichend, daß die Koͤnigin mit dem Snee-
wittchen in den Wald faͤhrt, und es bittet ihm
von den ſchoͤnen Roſen, die da ſtehen, einen
Strauß abzubrechen, waͤhrend es bricht, faͤhrt ſie
fort und laͤßt es allein. Endlich kennen wir noch
eine dritte Recenſion: Ein Koͤnig verliert ſeine
Gemahlin, mit der er eine einzige Tochter Snee-
wittchen hat und nimmt eine andere, mit der er
drei Toͤchter bekommt. Dieſe haßt das Stiefkind,
auch wegen ſeiner wunderbaren Schoͤnheit, und
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. XXXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/454>, abgerufen am 26.11.2024.
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