Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.
durch Löwen und durch Drachen: will der König Schwan denn gar nicht erwa- chen?" Der König aber schlief wieder fest von einem Schlaftrunk, und das Mädchen hatte auch sei- ne Spindel verloren. Da setzte es sich am drit- ten Morgen mit seinem goldenen Haspel vor das Thor und haspelte. Die Königin wollte auch die Kostbarkeit haben, und versprach dem Mädchen, es sollte dafür noch eine Nacht ne- ben dem Schlafzimmer bleiben. Es hatte aber den Betrug gemerkt, und bat den Diener des Königs, er mögte diesem heut Abend was an- deres zu trinken geben. Da sang es noch ein- mal: "Denkt der König Schwan nicht an seine versprochene Braut Julian'? die ist gegangen durch Sonne, Mond und Stern, durch Löwen und durch Drachen: will der König Schwan, denn gar nicht erwa- chen?" Da erwachte der König; wie er ihre Stimme hörte, erkannte sie und fragte die Königin: "wenn man einen Schlüssel verloren hat und ihn wieder findet, behält man dann den alten oder den neugemachten?" Die Königin sagte: "ganz gewiß den alten." -- "Nun, dann kannst du meine Gemahlin nicht länger seyn, ich habe
durch Loͤwen und durch Drachen: will der Koͤnig Schwan denn gar nicht erwa- chen?“ Der Koͤnig aber ſchlief wieder feſt von einem Schlaftrunk, und das Maͤdchen hatte auch ſei- ne Spindel verloren. Da ſetzte es ſich am drit- ten Morgen mit ſeinem goldenen Haspel vor das Thor und haspelte. Die Koͤnigin wollte auch die Koſtbarkeit haben, und verſprach dem Maͤdchen, es ſollte dafuͤr noch eine Nacht ne- ben dem Schlafzimmer bleiben. Es hatte aber den Betrug gemerkt, und bat den Diener des Koͤnigs, er moͤgte dieſem heut Abend was an- deres zu trinken geben. Da ſang es noch ein- mal: „Denkt der Koͤnig Schwan nicht an ſeine verſprochene Braut Julian'? die iſt gegangen durch Sonne, Mond und Stern, durch Loͤwen und durch Drachen: will der Koͤnig Schwan, denn gar nicht erwa- chen?“ Da erwachte der Koͤnig; wie er ihre Stimme hoͤrte, erkannte ſie und fragte die Koͤnigin: „wenn man einen Schluͤſſel verloren hat und ihn wieder findet, behaͤlt man dann den alten oder den neugemachten?“ Die Koͤnigin ſagte: „ganz gewiß den alten.“ — „Nun, dann kannſt du meine Gemahlin nicht laͤnger ſeyn, ich habe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><lg type="poem"><l><pb facs="#f0311" n="277"/></l><l>durch Loͤwen und durch Drachen:</l><lb/><l>will der Koͤnig Schwan denn gar nicht erwa-</l><lb/><l>chen?“</l></lg><lb/> Der Koͤnig aber ſchlief wieder feſt von einem<lb/> Schlaftrunk, und das Maͤdchen hatte auch ſei-<lb/> ne Spindel verloren. Da ſetzte es ſich am drit-<lb/> ten Morgen mit ſeinem goldenen Haspel vor<lb/> das Thor und haspelte. Die Koͤnigin wollte<lb/> auch die Koſtbarkeit haben, und verſprach dem<lb/> Maͤdchen, es ſollte dafuͤr noch eine Nacht ne-<lb/> ben dem Schlafzimmer bleiben. Es hatte aber<lb/> den Betrug gemerkt, und bat den Diener des<lb/> Koͤnigs, er moͤgte dieſem heut Abend was an-<lb/> deres zu trinken geben. Da ſang es noch ein-<lb/> mal:<lb/><lg type="poem"><l>„Denkt der Koͤnig Schwan</l><lb/><l>nicht an ſeine verſprochene Braut Julian'?</l><lb/><l>die iſt gegangen durch Sonne, Mond und</l><lb/><l>Stern,</l><lb/><l>durch Loͤwen und durch Drachen:</l><lb/><l>will der Koͤnig Schwan, denn gar nicht erwa-</l><lb/><l>chen?“</l></lg><lb/> Da erwachte der Koͤnig; wie er ihre Stimme<lb/> hoͤrte, erkannte ſie und fragte die Koͤnigin:<lb/> „wenn man einen Schluͤſſel verloren hat und<lb/> ihn wieder findet, behaͤlt man dann den alten<lb/> oder den neugemachten?“ Die Koͤnigin ſagte:<lb/> „ganz gewiß den alten.“ — „Nun, dann kannſt<lb/> du meine Gemahlin nicht laͤnger ſeyn, ich habe<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [277/0311]
durch Loͤwen und durch Drachen:
will der Koͤnig Schwan denn gar nicht erwa-
chen?“
Der Koͤnig aber ſchlief wieder feſt von einem
Schlaftrunk, und das Maͤdchen hatte auch ſei-
ne Spindel verloren. Da ſetzte es ſich am drit-
ten Morgen mit ſeinem goldenen Haspel vor
das Thor und haspelte. Die Koͤnigin wollte
auch die Koſtbarkeit haben, und verſprach dem
Maͤdchen, es ſollte dafuͤr noch eine Nacht ne-
ben dem Schlafzimmer bleiben. Es hatte aber
den Betrug gemerkt, und bat den Diener des
Koͤnigs, er moͤgte dieſem heut Abend was an-
deres zu trinken geben. Da ſang es noch ein-
mal:
„Denkt der Koͤnig Schwan
nicht an ſeine verſprochene Braut Julian'?
die iſt gegangen durch Sonne, Mond und
Stern,
durch Loͤwen und durch Drachen:
will der Koͤnig Schwan, denn gar nicht erwa-
chen?“
Da erwachte der Koͤnig; wie er ihre Stimme
hoͤrte, erkannte ſie und fragte die Koͤnigin:
„wenn man einen Schluͤſſel verloren hat und
ihn wieder findet, behaͤlt man dann den alten
oder den neugemachten?“ Die Koͤnigin ſagte:
„ganz gewiß den alten.“ — „Nun, dann kannſt
du meine Gemahlin nicht laͤnger ſeyn, ich habe
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/311>, abgerufen am 22.07.2024. |