aber nicht. "Wo bist du?" -- "Ei! hier auf der Treppe, die kehr ich," sprach der eine Blutstropfen. Da ging sie hinaus; auf der Treppe war niemand: "wo bist du denn?" -- "Ei! hier in der Küche, beim Feuer, da wärm ich mich!" rief der zweite Blutstropfen; sie ging in die Küche, aber sie sah niemand: "wo bist du denn aber?" -- "Ach! hier am Bett, da schlaf ich!" sie lief in die Kammer ans Bett, da sah sie ihr eigen Kind in seinem Blu- te schwimmen. Da erschrack sie und merkte, daß sie betrogen war, und ward zornig, weil sie aber eine Hexe war, konnte sie weit in die Welt hineinsehen, und sah ihre Stieftochter mit ihren Liebsten forteilen, und sie waren schon weit weg. Alsbald zog sie ihre Meilenstiefeln an, und ging ihnen nach, hatte sie auch bald eingeholt; das Mädchen aber hatte durch den Zauberstab gewußt, daß sie verfolgt würden, und sich in einen See, ihren Liebsten Roland aber in eine Ente verwandelt, die schwamm darauf. Als nun die Stiefmutter herzu kam, setzte sie sich an das Ufer und suchte die Ente mit Brod zu locken, aber es war alle Mühe ver- geblich, am Abend mußte sie unverrichteter Sa- che heimgehen. Die zwei nahmen ihre mensch- liche Gestalt wieder an, und gingen weiter, wie aber der Tag anbrach wurden sie wieder von der Hexe verfolgt. Da verwandelte sich das
Kindermärchen. R
aber nicht. „Wo biſt du?“ — „Ei! hier auf der Treppe, die kehr ich,“ ſprach der eine Blutstropfen. Da ging ſie hinaus; auf der Treppe war niemand: „wo biſt du denn?“ — „Ei! hier in der Kuͤche, beim Feuer, da waͤrm ich mich!“ rief der zweite Blutstropfen; ſie ging in die Kuͤche, aber ſie ſah niemand: „wo biſt du denn aber?“ — „Ach! hier am Bett, da ſchlaf ich!“ ſie lief in die Kammer ans Bett, da ſah ſie ihr eigen Kind in ſeinem Blu- te ſchwimmen. Da erſchrack ſie und merkte, daß ſie betrogen war, und ward zornig, weil ſie aber eine Hexe war, konnte ſie weit in die Welt hineinſehen, und ſah ihre Stieftochter mit ihren Liebſten forteilen, und ſie waren ſchon weit weg. Alsbald zog ſie ihre Meilenſtiefeln an, und ging ihnen nach, hatte ſie auch bald eingeholt; das Maͤdchen aber hatte durch den Zauberſtab gewußt, daß ſie verfolgt wuͤrden, und ſich in einen See, ihren Liebſten Roland aber in eine Ente verwandelt, die ſchwamm darauf. Als nun die Stiefmutter herzu kam, ſetzte ſie ſich an das Ufer und ſuchte die Ente mit Brod zu locken, aber es war alle Muͤhe ver- geblich, am Abend mußte ſie unverrichteter Sa- che heimgehen. Die zwei nahmen ihre menſch- liche Geſtalt wieder an, und gingen weiter, wie aber der Tag anbrach wurden ſie wieder von der Hexe verfolgt. Da verwandelte ſich das
Kindermärchen. R
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0291"n="257"/>
aber nicht. „Wo biſt du?“—„Ei! hier auf<lb/>
der Treppe, die kehr ich,“ſprach der eine<lb/>
Blutstropfen. Da ging ſie hinaus; auf der<lb/>
Treppe war niemand: „wo biſt du denn?“—<lb/>„Ei! hier in der Kuͤche, beim Feuer, da waͤrm<lb/>
ich mich!“ rief der zweite Blutstropfen; ſie<lb/>
ging in die Kuͤche, aber ſie ſah niemand: „wo<lb/>
biſt du denn aber?“—„Ach! hier am Bett,<lb/>
da ſchlaf ich!“ſie lief in die Kammer ans<lb/>
Bett, da ſah ſie ihr eigen Kind in ſeinem Blu-<lb/>
te ſchwimmen. Da erſchrack ſie und merkte,<lb/>
daß ſie betrogen war, und ward zornig, weil<lb/>ſie aber eine Hexe war, konnte ſie weit in die<lb/>
Welt hineinſehen, und ſah ihre Stieftochter<lb/>
mit ihren Liebſten forteilen, und ſie waren ſchon<lb/>
weit weg. Alsbald zog ſie ihre Meilenſtiefeln<lb/>
an, und ging ihnen nach, hatte ſie auch bald<lb/>
eingeholt; das Maͤdchen aber hatte durch den<lb/>
Zauberſtab gewußt, daß ſie verfolgt wuͤrden,<lb/>
und ſich in einen See, ihren Liebſten Roland<lb/>
aber in eine Ente verwandelt, die ſchwamm<lb/>
darauf. Als nun die Stiefmutter herzu kam,<lb/>ſetzte ſie ſich an das Ufer und ſuchte die Ente<lb/>
mit Brod zu locken, aber es war alle Muͤhe ver-<lb/>
geblich, am Abend mußte ſie unverrichteter Sa-<lb/>
che heimgehen. Die zwei nahmen ihre menſch-<lb/>
liche Geſtalt wieder an, und gingen weiter, wie<lb/>
aber der Tag anbrach wurden ſie wieder von<lb/>
der Hexe verfolgt. Da verwandelte ſich das<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Kindermärchen. R</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[257/0291]
aber nicht. „Wo biſt du?“ — „Ei! hier auf
der Treppe, die kehr ich,“ ſprach der eine
Blutstropfen. Da ging ſie hinaus; auf der
Treppe war niemand: „wo biſt du denn?“ —
„Ei! hier in der Kuͤche, beim Feuer, da waͤrm
ich mich!“ rief der zweite Blutstropfen; ſie
ging in die Kuͤche, aber ſie ſah niemand: „wo
biſt du denn aber?“ — „Ach! hier am Bett,
da ſchlaf ich!“ ſie lief in die Kammer ans
Bett, da ſah ſie ihr eigen Kind in ſeinem Blu-
te ſchwimmen. Da erſchrack ſie und merkte,
daß ſie betrogen war, und ward zornig, weil
ſie aber eine Hexe war, konnte ſie weit in die
Welt hineinſehen, und ſah ihre Stieftochter
mit ihren Liebſten forteilen, und ſie waren ſchon
weit weg. Alsbald zog ſie ihre Meilenſtiefeln
an, und ging ihnen nach, hatte ſie auch bald
eingeholt; das Maͤdchen aber hatte durch den
Zauberſtab gewußt, daß ſie verfolgt wuͤrden,
und ſich in einen See, ihren Liebſten Roland
aber in eine Ente verwandelt, die ſchwamm
darauf. Als nun die Stiefmutter herzu kam,
ſetzte ſie ſich an das Ufer und ſuchte die Ente
mit Brod zu locken, aber es war alle Muͤhe ver-
geblich, am Abend mußte ſie unverrichteter Sa-
che heimgehen. Die zwei nahmen ihre menſch-
liche Geſtalt wieder an, und gingen weiter, wie
aber der Tag anbrach wurden ſie wieder von
der Hexe verfolgt. Da verwandelte ſich das
Kindermärchen. R
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/291>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.