den ersten Prinzen zur Welt brachte, nahm die Schwiegermutter ihn weg, bestrich ihr den Mund mit Blut und gab dann bei dem König vor, die Königin habe ihr eigen Kind gefressen, und sey eine Zauberin. Der König aber, aus großer Liebe, wollte es nicht glauben; darnach als sie den zweiten Prinzen gebar, übte die gottlose Schwiegermutter denselben Betrug, und klagte sie wieder beim König an, und weil sie nicht reden durfte, sondern immer stumm saß und an den sechs Hemdern arbeitete, so konnte sie nichts mehr erretten, und sie ward zum Feuer verdammt. Der Tag kam heran, wo das Urtheil sollte vollzogen werden, es war gerade der letzte Tag von den sechs Jahren, und sie war mit den sechs Hemdern fertig geworden, nur an einem fehlte der linke Ermel. Wie sie nun zum Scheiterhaufen geführt wurde, nahm sie die sechs Hemder mit sich, und wie sie oben stand und eben das Feuer sollte angesteckt wer- den, sah sie sechs Schwäne durch die Luft da- her ziehen, und über ihr sich herabsenken. Da warf sie die Hemdlein hinauf, die fielen über die Schwäne hin, und kaum waren sie davon berührt, so fiel ihre Schwanenhaut ab, und die sechs Brüder standen leibhaftig vor ihr, nur dem sechsten fehlte der linke Arm, und er hatte dafür einen Schwanenflügel auf dem Rücken. Da war ihr auch die Sprache wiedergegeben,
und
den erſten Prinzen zur Welt brachte, nahm die Schwiegermutter ihn weg, beſtrich ihr den Mund mit Blut und gab dann bei dem Koͤnig vor, die Koͤnigin habe ihr eigen Kind gefreſſen, und ſey eine Zauberin. Der Koͤnig aber, aus großer Liebe, wollte es nicht glauben; darnach als ſie den zweiten Prinzen gebar, uͤbte die gottloſe Schwiegermutter denſelben Betrug, und klagte ſie wieder beim Koͤnig an, und weil ſie nicht reden durfte, ſondern immer ſtumm ſaß und an den ſechs Hemdern arbeitete, ſo konnte ſie nichts mehr erretten, und ſie ward zum Feuer verdammt. Der Tag kam heran, wo das Urtheil ſollte vollzogen werden, es war gerade der letzte Tag von den ſechs Jahren, und ſie war mit den ſechs Hemdern fertig geworden, nur an einem fehlte der linke Ermel. Wie ſie nun zum Scheiterhaufen gefuͤhrt wurde, nahm ſie die ſechs Hemder mit ſich, und wie ſie oben ſtand und eben das Feuer ſollte angeſteckt wer- den, ſah ſie ſechs Schwaͤne durch die Luft da- her ziehen, und uͤber ihr ſich herabſenken. Da warf ſie die Hemdlein hinauf, die fielen uͤber die Schwaͤne hin, und kaum waren ſie davon beruͤhrt, ſo fiel ihre Schwanenhaut ab, und die ſechs Bruͤder ſtanden leibhaftig vor ihr, nur dem ſechſten fehlte der linke Arm, und er hatte dafuͤr einen Schwanenfluͤgel auf dem Ruͤcken. Da war ihr auch die Sprache wiedergegeben,
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den erſten Prinzen zur Welt brachte, nahm die
Schwiegermutter ihn weg, beſtrich ihr den
Mund mit Blut und gab dann bei dem Koͤnig
vor, die Koͤnigin habe ihr eigen Kind gefreſſen,
und ſey eine Zauberin. Der Koͤnig aber, aus
großer Liebe, wollte es nicht glauben; darnach
als ſie den zweiten Prinzen gebar, uͤbte die
gottloſe Schwiegermutter denſelben Betrug,
und klagte ſie wieder beim Koͤnig an, und weil
ſie nicht reden durfte, ſondern immer ſtumm
ſaß und an den ſechs Hemdern arbeitete, ſo
konnte ſie nichts mehr erretten, und ſie ward
zum Feuer verdammt. Der Tag kam heran,
wo das Urtheil ſollte vollzogen werden, es war
gerade der letzte Tag von den ſechs Jahren, und
ſie war mit den ſechs Hemdern fertig geworden,
nur an einem fehlte der linke Ermel. Wie ſie
nun zum Scheiterhaufen gefuͤhrt wurde, nahm
ſie die ſechs Hemder mit ſich, und wie ſie oben
ſtand und eben das Feuer ſollte angeſteckt wer-
den, ſah ſie ſechs Schwaͤne durch die Luft da-
her ziehen, und uͤber ihr ſich herabſenken. Da
warf ſie die Hemdlein hinauf, die fielen uͤber
die Schwaͤne hin, und kaum waren ſie davon
beruͤhrt, ſo fiel ihre Schwanenhaut ab, und die
ſechs Bruͤder ſtanden leibhaftig vor ihr, nur
dem ſechſten fehlte der linke Arm, und er hatte
dafuͤr einen Schwanenfluͤgel auf dem Ruͤcken.
Da war ihr auch die Sprache wiedergegeben,
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/258>, abgerufen am 21.11.2024.
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