Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.irgend etwas Unbedeutendes verordnet, und man beruhigte sich vorläufig. Andern Tags kam Emma wie gewöhnlich zum Frühstück. Es hatten sich schon einige Bekannte eingefunden. Sie setzte sich still hin, ihre Augenlieder sahen matt aus und waren leise geröthet, die Wangen ein wenig blässer, und es schien, als wäre sie größer geworden. Aber sie aß und trank wie sonst, setzte sich dann auf den sonnigen Balkon und sah hinab in die Orangen, die unter ihm in dichten Blättern wuchsen. Albert ging ihr nach und lehnte sich neben ihr auf die Ballustrade. Du bist nicht wohl, Emma? sagte er. Sie sah ihn an, ganz fremd und kalt. O ja, ich bin ganz wohl. -- Dann ist dir vielleicht etwas Trauriges begegnet? -- Nein. -- Sie erhob sich langsam, ging ins Zimmer zurück und stellte sich ans Fenster. Wiederum ging er ihr nach und stand neben ihr. Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Kleides und ergriff ein gefaltetes Papier darin, aber sie zog es nicht heraus; dann, nach einer Weile, ging sie auf den Balkon zu ihrem alten Sitze zurück; diesmal blieb Albert am Fenster stehen. Was hat das Kind? fragte Heinrich. Der Vater trat zu ihnen, und alle Drei blickten vom Fenster aus nach dem Balkon und sahen das lichtbraune Haar und die Hand, auf die sie den Kopf stützte, unbeweglich. Geh du zu ihr, sagte endlich Albert zu Heinrich. -- Lassen wir sie lieber, erwiderte dieser, es läge auch irgend etwas Unbedeutendes verordnet, und man beruhigte sich vorläufig. Andern Tags kam Emma wie gewöhnlich zum Frühstück. Es hatten sich schon einige Bekannte eingefunden. Sie setzte sich still hin, ihre Augenlieder sahen matt aus und waren leise geröthet, die Wangen ein wenig blässer, und es schien, als wäre sie größer geworden. Aber sie aß und trank wie sonst, setzte sich dann auf den sonnigen Balkon und sah hinab in die Orangen, die unter ihm in dichten Blättern wuchsen. Albert ging ihr nach und lehnte sich neben ihr auf die Ballustrade. Du bist nicht wohl, Emma? sagte er. Sie sah ihn an, ganz fremd und kalt. O ja, ich bin ganz wohl. — Dann ist dir vielleicht etwas Trauriges begegnet? — Nein. — Sie erhob sich langsam, ging ins Zimmer zurück und stellte sich ans Fenster. Wiederum ging er ihr nach und stand neben ihr. Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Kleides und ergriff ein gefaltetes Papier darin, aber sie zog es nicht heraus; dann, nach einer Weile, ging sie auf den Balkon zu ihrem alten Sitze zurück; diesmal blieb Albert am Fenster stehen. Was hat das Kind? fragte Heinrich. Der Vater trat zu ihnen, und alle Drei blickten vom Fenster aus nach dem Balkon und sahen das lichtbraune Haar und die Hand, auf die sie den Kopf stützte, unbeweglich. Geh du zu ihr, sagte endlich Albert zu Heinrich. — Lassen wir sie lieber, erwiderte dieser, es läge auch <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0056"/> irgend etwas Unbedeutendes verordnet, und man beruhigte sich vorläufig.</p><lb/> <p>Andern Tags kam Emma wie gewöhnlich zum Frühstück. Es hatten sich schon einige Bekannte eingefunden. Sie setzte sich still hin, ihre Augenlieder sahen matt aus und waren leise geröthet, die Wangen ein wenig blässer, und es schien, als wäre sie größer geworden. Aber sie aß und trank wie sonst, setzte sich dann auf den sonnigen Balkon und sah hinab in die Orangen, die unter ihm in dichten Blättern wuchsen. Albert ging ihr nach und lehnte sich neben ihr auf die Ballustrade. Du bist nicht wohl, Emma? sagte er. Sie sah ihn an, ganz fremd und kalt. O ja, ich bin ganz wohl. — Dann ist dir vielleicht etwas Trauriges begegnet? — Nein. — Sie erhob sich langsam, ging ins Zimmer zurück und stellte sich ans Fenster. Wiederum ging er ihr nach und stand neben ihr. Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Kleides und ergriff ein gefaltetes Papier darin, aber sie zog es nicht heraus; dann, nach einer Weile, ging sie auf den Balkon zu ihrem alten Sitze zurück; diesmal blieb Albert am Fenster stehen.</p><lb/> <p>Was hat das Kind? fragte Heinrich. Der Vater trat zu ihnen, und alle Drei blickten vom Fenster aus nach dem Balkon und sahen das lichtbraune Haar und die Hand, auf die sie den Kopf stützte, unbeweglich. Geh du zu ihr, sagte endlich Albert zu Heinrich. — Lassen wir sie lieber, erwiderte dieser, es läge auch<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0056]
irgend etwas Unbedeutendes verordnet, und man beruhigte sich vorläufig.
Andern Tags kam Emma wie gewöhnlich zum Frühstück. Es hatten sich schon einige Bekannte eingefunden. Sie setzte sich still hin, ihre Augenlieder sahen matt aus und waren leise geröthet, die Wangen ein wenig blässer, und es schien, als wäre sie größer geworden. Aber sie aß und trank wie sonst, setzte sich dann auf den sonnigen Balkon und sah hinab in die Orangen, die unter ihm in dichten Blättern wuchsen. Albert ging ihr nach und lehnte sich neben ihr auf die Ballustrade. Du bist nicht wohl, Emma? sagte er. Sie sah ihn an, ganz fremd und kalt. O ja, ich bin ganz wohl. — Dann ist dir vielleicht etwas Trauriges begegnet? — Nein. — Sie erhob sich langsam, ging ins Zimmer zurück und stellte sich ans Fenster. Wiederum ging er ihr nach und stand neben ihr. Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Kleides und ergriff ein gefaltetes Papier darin, aber sie zog es nicht heraus; dann, nach einer Weile, ging sie auf den Balkon zu ihrem alten Sitze zurück; diesmal blieb Albert am Fenster stehen.
Was hat das Kind? fragte Heinrich. Der Vater trat zu ihnen, und alle Drei blickten vom Fenster aus nach dem Balkon und sahen das lichtbraune Haar und die Hand, auf die sie den Kopf stützte, unbeweglich. Geh du zu ihr, sagte endlich Albert zu Heinrich. — Lassen wir sie lieber, erwiderte dieser, es läge auch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T10:24:04Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T10:24:04Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |