Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ohne Weiteres allein in ihrem Zimmer annahm, weil sie sich mit einem Schlage selbstständig fühlte in den neuen Verhältnissen. Auch stand er ihr ja näher als Andere. Er lehnte sich übers Clavier und sprach, während sie allmählich die Hände in den Schooß legte und ihm Antwort gab. Sein ganzes Wesen athmete Frische, und es lag in ihm noch die jugendliche Erwartung der Zukunft, die Vielen so früh verloren geht. Er erzählte, wie er Emma zuerst gesehen, wie die Umgebung um sie immer mehr nebelhaft verschwommen wäre und ihr Bild allein klar geblieben. Er hatte Alles bemerkt, was Schönes an ihr war, er sprach voll Enthusiasmus von ihr wie von einem schönen Bilde, und stockte dann wieder mitten in der Rede, weil er zu deutlich fühlte, daß sie mehr als ein Bild sei. Therese vergaß die Verlobung, die Reise, die Befürchtungen, sie betrachtete Emil als wäre er in Wahrheit längst mit Emma vermählt, als wäre das abgethan und hätte sich diese Unruhe schon in die schönste Gewohnheit aufgelöst. Und doch, welche Luftschlösser, die sie Beide erbauten! Erst als er gegangen war, fühlte sie es doppelt deutlich: die stolzen Gebäude lösten sich in Wolken auf, immer grauer und grauer, bis ein trüber Himmel einzig zurückblieb, unter dem sie traurig allein stand. Unterdessen eilten die Reisenden ihrem Ziele entgegen. Es waren die ersten Tage des Novembers, das Wetter köstlich, die Eisenbahnen so pünktlich, die Reise ohne Weiteres allein in ihrem Zimmer annahm, weil sie sich mit einem Schlage selbstständig fühlte in den neuen Verhältnissen. Auch stand er ihr ja näher als Andere. Er lehnte sich übers Clavier und sprach, während sie allmählich die Hände in den Schooß legte und ihm Antwort gab. Sein ganzes Wesen athmete Frische, und es lag in ihm noch die jugendliche Erwartung der Zukunft, die Vielen so früh verloren geht. Er erzählte, wie er Emma zuerst gesehen, wie die Umgebung um sie immer mehr nebelhaft verschwommen wäre und ihr Bild allein klar geblieben. Er hatte Alles bemerkt, was Schönes an ihr war, er sprach voll Enthusiasmus von ihr wie von einem schönen Bilde, und stockte dann wieder mitten in der Rede, weil er zu deutlich fühlte, daß sie mehr als ein Bild sei. Therese vergaß die Verlobung, die Reise, die Befürchtungen, sie betrachtete Emil als wäre er in Wahrheit längst mit Emma vermählt, als wäre das abgethan und hätte sich diese Unruhe schon in die schönste Gewohnheit aufgelöst. Und doch, welche Luftschlösser, die sie Beide erbauten! Erst als er gegangen war, fühlte sie es doppelt deutlich: die stolzen Gebäude lösten sich in Wolken auf, immer grauer und grauer, bis ein trüber Himmel einzig zurückblieb, unter dem sie traurig allein stand. Unterdessen eilten die Reisenden ihrem Ziele entgegen. Es waren die ersten Tage des Novembers, das Wetter köstlich, die Eisenbahnen so pünktlich, die Reise <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0049"/> ohne Weiteres allein in ihrem Zimmer annahm, weil sie sich mit einem Schlage selbstständig fühlte in den neuen Verhältnissen. Auch stand er ihr ja näher als Andere. Er lehnte sich übers Clavier und sprach, während sie allmählich die Hände in den Schooß legte und ihm Antwort gab. Sein ganzes Wesen athmete Frische, und es lag in ihm noch die jugendliche Erwartung der Zukunft, die Vielen so früh verloren geht. Er erzählte, wie er Emma zuerst gesehen, wie die Umgebung um sie immer mehr nebelhaft verschwommen wäre und ihr Bild allein klar geblieben. Er hatte Alles bemerkt, was Schönes an ihr war, er sprach voll Enthusiasmus von ihr wie von einem schönen Bilde, und stockte dann wieder mitten in der Rede, weil er zu deutlich fühlte, daß sie mehr als ein Bild sei. Therese vergaß die Verlobung, die Reise, die Befürchtungen, sie betrachtete Emil als wäre er in Wahrheit längst mit Emma vermählt, als wäre das abgethan und hätte sich diese Unruhe schon in die schönste Gewohnheit aufgelöst. Und doch, welche Luftschlösser, die sie Beide erbauten! Erst als er gegangen war, fühlte sie es doppelt deutlich: die stolzen Gebäude lösten sich in Wolken auf, immer grauer und grauer, bis ein trüber Himmel einzig zurückblieb, unter dem sie traurig allein stand.</p><lb/> <p>Unterdessen eilten die Reisenden ihrem Ziele entgegen. Es waren die ersten Tage des Novembers, das Wetter köstlich, die Eisenbahnen so pünktlich, die Reise<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0049]
ohne Weiteres allein in ihrem Zimmer annahm, weil sie sich mit einem Schlage selbstständig fühlte in den neuen Verhältnissen. Auch stand er ihr ja näher als Andere. Er lehnte sich übers Clavier und sprach, während sie allmählich die Hände in den Schooß legte und ihm Antwort gab. Sein ganzes Wesen athmete Frische, und es lag in ihm noch die jugendliche Erwartung der Zukunft, die Vielen so früh verloren geht. Er erzählte, wie er Emma zuerst gesehen, wie die Umgebung um sie immer mehr nebelhaft verschwommen wäre und ihr Bild allein klar geblieben. Er hatte Alles bemerkt, was Schönes an ihr war, er sprach voll Enthusiasmus von ihr wie von einem schönen Bilde, und stockte dann wieder mitten in der Rede, weil er zu deutlich fühlte, daß sie mehr als ein Bild sei. Therese vergaß die Verlobung, die Reise, die Befürchtungen, sie betrachtete Emil als wäre er in Wahrheit längst mit Emma vermählt, als wäre das abgethan und hätte sich diese Unruhe schon in die schönste Gewohnheit aufgelöst. Und doch, welche Luftschlösser, die sie Beide erbauten! Erst als er gegangen war, fühlte sie es doppelt deutlich: die stolzen Gebäude lösten sich in Wolken auf, immer grauer und grauer, bis ein trüber Himmel einzig zurückblieb, unter dem sie traurig allein stand.
Unterdessen eilten die Reisenden ihrem Ziele entgegen. Es waren die ersten Tage des Novembers, das Wetter köstlich, die Eisenbahnen so pünktlich, die Reise
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/49>, abgerufen am 17.02.2025. |