a) das befragte -s, falls aus dem gen. masc. und neu- tr. herzuleiten, würde lauter uneigentliche, genitivische composita anzeigen. Gewöhnlich aber stehen solche zu- sammensetzungen offenbar andern eigentlichen zur seite, vgl. z. b. hofnungs-los, vorschrifts-mäßig, nahrungs-sorge, regierungs-rath, scheidungs-brief, wahrheits-durst, frei- heits-taumel etc. mit geld-los, recht-mäßig, geld-sorge, hof-rath, scheid-brief, blut-durst, fieber-taumel. Hier ist gar kein grund uneigentlich zu componieren; der hauptgrundsatz uneigentl. composition, daß sie aus vor- gesetztem losen casus erwachse, leidet keine anwendung, da nie ein ungebundnes -heits, -ungs stattfindet.
b) warum kommt das -s (nach I, 2.) gern hinter zu- sammengesetzten subst. zum vorschein und unterbleibt hinter einfachen? vgl. sommernachts-traum, schlitten- fahrts-beschreibung, mit nacht-traum, fahrt-beschreibung. Ja, ein gleiches verhältnis blickt durch bei zus. gesetzten masc. und neutris, vgl. handwerks-zeug, überrocks-knopf, butterbrots-meßer mit werk-zeug, rock-knopf, brot- meßer. Drückt auch hier das -s etwas anders aus, als uneigentl. composition?
4) es schiene demnach ein für mehrsilbige (abgeleitete und zusammengesetzte) substantiva späterhin nöthig be- fundnes surrogat des compositionsvocals? wie ich es schon oben s. 409. ein analogon desselben genannt habe. Viel- silbige, langschweisige wörter meidet die frühere sprache in composition zu bringen. Wir finden zwar ableitun- gen mit liquidis unbedenklich gebunden, seltner solche mit mutis (z. b. houpit-man), kaum die mit doppelter consonanz vgl. oben s. 540. 579. Als im nhd. diese zu- sammensetzungen nicht länger umgangen werden konn- ten, strebte der sprachgeist, welchem der bindende vocal längst vergeßen war, nach einem andern mittel und er- griff (durch eine menge uneigentlicher comp., vielleicht auch die unter 2. erörterten einzelnheiten darauf geführt) das -s. Wörter wie freundschaft-bezeigung, glückselig- keit-begriff, vereinigung-punct, execution-armee hätten in der theorie für nicht weniger eigentlich zus. gesetzt gelten können, als luft-zug, streit-lust, regen-schirm, fang- spieß. Allein jene waren etwas ungewohntes und um sie in gang zu bringen bedurfte es einer verdeutlichung des acts der composition, wozu man inftinctmäßig das passende -s wählte: freundschafts-bezeigung etc. Das hilfsmittel wurde inzwischen nicht vollständig auf alle fälle angewendet, weil der neuen, halbbewusten sprache
III. unflexiviſches compoſitions-S.
a) das befragte -s, falls aus dem gen. maſc. und neu- tr. herzuleiten, würde lauter uneigentliche, genitiviſche compoſita anzeigen. Gewöhnlich aber ſtehen ſolche zu- ſammenſetzungen offenbar andern eigentlichen zur ſeite, vgl. z. b. hofnungs-los, vorſchrifts-mäßig, nahrungs-ſorge, regierungs-rath, ſcheidungs-brief, wahrheits-durſt, frei- heits-taumel etc. mit geld-los, recht-mäßig, geld-ſorge, hof-rath, ſcheid-brief, blut-durſt, fieber-taumel. Hier iſt gar kein grund uneigentlich zu componieren; der hauptgrundſatz uneigentl. compoſition, daß ſie aus vor- geſetztem loſen caſus erwachſe, leidet keine anwendung, da nie ein ungebundnes -heits, -ungs ſtattfindet.
b) warum kommt das -s (nach I, 2.) gern hinter zu- ſammengeſetzten ſubſt. zum vorſchein und unterbleibt hinter einfachen? vgl. ſommernachts-traum, ſchlitten- fahrts-beſchreibung, mit nacht-traum, fahrt-beſchreibung. Ja, ein gleiches verhältnis blickt durch bei zuſ. geſetzten maſc. und neutris, vgl. handwerks-zeug, überrocks-knopf, butterbrots-meßer mit werk-zeug, rock-knopf, brot- meßer. Drückt auch hier das -s etwas anders aus, als uneigentl. compoſition?
4) es ſchiene demnach ein für mehrſilbige (abgeleitete und zuſammengeſetzte) ſubſtantiva ſpäterhin nöthig be- fundnes ſurrogat des compoſitionsvocals? wie ich es ſchon oben ſ. 409. ein analogon deſſelben genannt habe. Viel- ſilbige, langſchweiſige wörter meidet die frühere ſprache in compoſition zu bringen. Wir finden zwar ableitun- gen mit liquidis unbedenklich gebunden, ſeltner ſolche mit mutis (z. b. houpit-man), kaum die mit doppelter conſonanz vgl. oben ſ. 540. 579. Als im nhd. dieſe zu- ſammenſetzungen nicht länger umgangen werden konn- ten, ſtrebte der ſprachgeiſt, welchem der bindende vocal längſt vergeßen war, nach einem andern mittel und er- griff (durch eine menge uneigentlicher comp., vielleicht auch die unter 2. erörterten einzelnheiten darauf geführt) das -s. Wörter wie freundſchaft-bezeigung, glückſelig- keit-begriff, vereinigung-punct, execution-armee hätten in der theorie für nicht weniger eigentlich zuſ. geſetzt gelten können, als luft-zug, ſtreit-luſt, regen-ſchirm, fang- ſpieß. Allein jene waren etwas ungewohntes und um ſie in gang zu bringen bedurfte es einer verdeutlichung des acts der compoſition, wozu man inftinctmäßig das paſſende -s wählte: freundſchafts-bezeigung etc. Das hilfsmittel wurde inzwiſchen nicht vollſtändig auf alle fälle angewendet, weil der neuen, halbbewuſten ſprache
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III. unflexiviſches compoſitions-S.
a) das befragte -s, falls aus dem gen. maſc. und neu-
tr. herzuleiten, würde lauter uneigentliche, genitiviſche
compoſita anzeigen. Gewöhnlich aber ſtehen ſolche zu-
ſammenſetzungen offenbar andern eigentlichen zur ſeite,
vgl. z. b. hofnungs-los, vorſchrifts-mäßig, nahrungs-ſorge,
regierungs-rath, ſcheidungs-brief, wahrheits-durſt, frei-
heits-taumel etc. mit geld-los, recht-mäßig, geld-ſorge,
hof-rath, ſcheid-brief, blut-durſt, fieber-taumel. Hier
iſt gar kein grund uneigentlich zu componieren; der
hauptgrundſatz uneigentl. compoſition, daß ſie aus vor-
geſetztem loſen caſus erwachſe, leidet keine anwendung,
da nie ein ungebundnes -heits, -ungs ſtattfindet.
b) warum kommt das -s (nach I, 2.) gern hinter zu-
ſammengeſetzten ſubſt. zum vorſchein und unterbleibt
hinter einfachen? vgl. ſommernachts-traum, ſchlitten-
fahrts-beſchreibung, mit nacht-traum, fahrt-beſchreibung.
Ja, ein gleiches verhältnis blickt durch bei zuſ. geſetzten
maſc. und neutris, vgl. handwerks-zeug, überrocks-knopf,
butterbrots-meßer mit werk-zeug, rock-knopf, brot-
meßer. Drückt auch hier das -s etwas anders aus, als
uneigentl. compoſition?
4) es ſchiene demnach ein für mehrſilbige (abgeleitete
und zuſammengeſetzte) ſubſtantiva ſpäterhin nöthig be-
fundnes ſurrogat des compoſitionsvocals? wie ich es ſchon
oben ſ. 409. ein analogon deſſelben genannt habe. Viel-
ſilbige, langſchweiſige wörter meidet die frühere ſprache
in compoſition zu bringen. Wir finden zwar ableitun-
gen mit liquidis unbedenklich gebunden, ſeltner ſolche
mit mutis (z. b. houpit-man), kaum die mit doppelter
conſonanz vgl. oben ſ. 540. 579. Als im nhd. dieſe zu-
ſammenſetzungen nicht länger umgangen werden konn-
ten, ſtrebte der ſprachgeiſt, welchem der bindende vocal
längſt vergeßen war, nach einem andern mittel und er-
griff (durch eine menge uneigentlicher comp., vielleicht
auch die unter 2. erörterten einzelnheiten darauf geführt)
das -s. Wörter wie freundſchaft-bezeigung, glückſelig-
keit-begriff, vereinigung-punct, execution-armee hätten
in der theorie für nicht weniger eigentlich zuſ. geſetzt
gelten können, als luft-zug, ſtreit-luſt, regen-ſchirm, fang-
ſpieß. Allein jene waren etwas ungewohntes und um
ſie in gang zu bringen bedurfte es einer verdeutlichung
des acts der compoſition, wozu man inftinctmäßig das
paſſende -s wählte: freundſchafts-bezeigung etc. Das
hilfsmittel wurde inzwiſchen nicht vollſtändig auf alle
fälle angewendet, weil der neuen, halbbewuſten ſprache
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 940. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/958>, abgerufen am 22.11.2024.
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