Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

III. partikelcomp. -- allgem. bemerkungen.
kend und ungleich bei ent- (s. 716.) be- (s. 718.) ver-
(s. 725.) und ge- (s. 734.). Sitzen bleibt er aber in allen
partikeln, die sich mit verbis nur unvollständig binden,
so wie in den übrigen, wenn schon wirklich an nomina
gefeßelten. Dies begründet einen unterschied in der ac-
centuierung derselben partikeln, je nachdem sie mit einem
nomen oder verbum componiert sind. Alle ableitungen
behalten den ton des componierten wortes aus dem sie
gebildet sind, seien fie selbst nomina oder verba (s. 919.).
Eben das gilt von unorganischen bildungen der späteren
sprache, die ohne ableitungsmittel entspringen, z. b. alle
nhd. subst. mit er- (er-weis, er-folg etc.) sind nach ver-
bis (er-weisen, er-folgen) formiert und haben unbetonte
partikel, da sich mit subst. im hochd. kein er- componiert.
Ich habe s. 734. note, die vermuthung gewagt, daß das
kurze a ein kennzeichen der betonung, gleichsam der
gesundheit aller partikeln abgebe, so wie das spätere,
man weiß nicht, ob aus a oder i entstellte e (nicht das
frühere e vor r, = goth. ai) untergang des tons ver-
räth. Diese vocalverdünnung scheint den gegensatz einer
gleichunorganischen verdickung für den betonten fall her-
vorgerufen zu haben (ahd. pei, ein, zuo = goth. bi, in.
du). Uebrigens hat im nhd., wo die betonung in allein-
stehenden partikeln gewöhnlich den kurzen vocal ver-
dirbt (her, hein, vor, wohl; statt her, hin, vor, wol) die
zus. setzung ihn zuweilen erhalten, vgl. vor-theil (s. 728.)
ur-theil (s. 790.) wol-lust (s. 794.) und ebenso hin-gang,
ab-gang, ab-kunft, ob-dach, in-land, un-schuld, un-
glück etc. freilich neben her-gang, her-kunft, vor-gang,
vor-zug, aur-alt, aur-bild, wohl-leben etc. Zwischen an-
tritt und an-tritt etc. schwankt die heutige aussprache.

3) daß alle mit verbis wirklich zusammensetzbaren
partikeln zugleich praepositionen sind oder waren, ist s.
698. 699. 866. gesagt worden; es scheint auch von eini-
gen behauptet werden zu müßen, die unzertrennlich vor
nominibus stehen, z. b. un- und uo-, nicht von allen,
z. b. nicht von tus- (zur-), geschweige von solchen, die
außerdem auch getrennt gebraucht werden z. b. vaila.

4) verzeichnisse nach dem zweiten wort, wie bei der
eigentlichen subst. und adj. zusammensetzung, aufzustellen
schien bei der partikelcomposition weder thunlich noch
nöthig. Doch werden folgende formen, die, da sie lauter
nomina betreffen, lieber gleich s. 796. hätten mitgetheilt
werden sollen, brauchbar, aber vielfach zu vermehren
sein; ahd. gi-chosi (eloquium) a-chosi (delirium) aftar-chosi

III. partikelcomp. — allgem. bemerkungen.
kend und ungleich bei ent- (ſ. 716.) be- (ſ. 718.) ver-
(ſ. 725.) und ge- (ſ. 734.). Sitzen bleibt er aber in allen
partikeln, die ſich mit verbis nur unvollſtändig binden,
ſo wie in den übrigen, wenn ſchon wirklich an nomina
gefeßelten. Dies begründet einen unterſchied in der ac-
centuierung derſelben partikeln, je nachdem ſie mit einem
nomen oder verbum componiert ſind. Alle ableitungen
behalten den ton des componierten wortes aus dem ſie
gebildet ſind, ſeien fie ſelbſt nomina oder verba (ſ. 919.).
Eben das gilt von unorganiſchen bildungen der ſpäteren
ſprache, die ohne ableitungsmittel entſpringen, z. b. alle
nhd. ſubſt. mit er- (er-weis, er-folg etc.) ſind nach ver-
bis (er-weiſen, er-folgen) formiert und haben unbetonte
partikel, da ſich mit ſubſt. im hochd. kein er- componiert.
Ich habe ſ. 734. note, die vermuthung gewagt, daß das
kurze a ein kennzeichen der betonung, gleichſam der
geſundheit aller partikeln abgebe, ſo wie das ſpätere,
man weiß nicht, ob aus a oder i entſtellte e (nicht das
frühere ë vor r, = goth. aí) untergang des tons ver-
räth. Dieſe vocalverdünnung ſcheint den gegenſatz einer
gleichunorganiſchen verdickung für den betonten fall her-
vorgerufen zu haben (ahd. pî, în, zuo = goth. bi, in.
du). Uebrigens hat im nhd., wo die betonung in allein-
ſtehenden partikeln gewöhnlich den kurzen vocal ver-
dirbt (hêr, hîn, vôr, wohl; ſtatt hër, hin, vor, wol) die
zuſ. ſetzung ihn zuweilen erhalten, vgl. vor-theil (ſ. 728.)
ur-theil (ſ. 790.) wol-luſt (ſ. 794.) und ebenſo hin-gang,
ab-gang, ab-kunft, ob-dach, in-land, un-ſchuld, un-
glück etc. freilich neben hêr-gang, hêr-kunft, vôr-gang,
vôr-zug, ûr-alt, ûr-bild, wohl-leben etc. Zwiſchen an-
tritt und ân-tritt etc. ſchwankt die heutige ausſprache.

3) daß alle mit verbis wirklich zuſammenſetzbaren
partikeln zugleich praepoſitionen ſind oder waren, iſt ſ.
698. 699. 866. geſagt worden; es ſcheint auch von eini-
gen behauptet werden zu müßen, die unzertrennlich vor
nominibus ſtehen, z. b. un- und uo-, nicht von allen,
z. b. nicht von tus- (zur-), geſchweige von ſolchen, die
außerdem auch getrennt gebraucht werden z. b. váila.

4) verzeichniſſe nach dem zweiten wort, wie bei der
eigentlichen ſubſt. und adj. zuſammenſetzung, aufzuſtellen
ſchien bei der partikelcompoſition weder thunlich noch
nöthig. Doch werden folgende formen, die, da ſie lauter
nomina betreffen, lieber gleich ſ. 796. hätten mitgetheilt
werden ſollen, brauchbar, aber vielfach zu vermehren
ſein; ahd. gi-chôſi (eloquium) â-chôſi (delirium) aftar-chôſi

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0940" n="922"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">partikelcomp. &#x2014; allgem. bemerkungen.</hi></hi></fw><lb/>
kend und ungleich bei ent- (&#x017F;. 716.) be- (&#x017F;. 718.) ver-<lb/>
(&#x017F;. 725.) und ge- (&#x017F;. 734.). Sitzen bleibt er aber in allen<lb/>
partikeln, die &#x017F;ich mit verbis nur unvoll&#x017F;tändig binden,<lb/>
&#x017F;o wie in den übrigen, wenn &#x017F;chon wirklich an nomina<lb/>
gefeßelten. Dies begründet einen unter&#x017F;chied in der ac-<lb/>
centuierung der&#x017F;elben partikeln, je nachdem &#x017F;ie mit einem<lb/>
nomen oder verbum componiert &#x017F;ind. Alle ableitungen<lb/>
behalten den ton des componierten wortes aus dem &#x017F;ie<lb/>
gebildet &#x017F;ind, &#x017F;eien fie &#x017F;elb&#x017F;t nomina oder verba (&#x017F;. 919.).<lb/>
Eben das gilt von unorgani&#x017F;chen bildungen der &#x017F;päteren<lb/>
&#x017F;prache, die ohne ableitungsmittel ent&#x017F;pringen, z. b. alle<lb/>
nhd. &#x017F;ub&#x017F;t. mit er- (er-weis, er-folg etc.) &#x017F;ind nach ver-<lb/>
bis (er-wei&#x017F;en, er-folgen) formiert und haben unbetonte<lb/>
partikel, da &#x017F;ich mit &#x017F;ub&#x017F;t. im hochd. kein er- componiert.<lb/>
Ich habe &#x017F;. 734. note, die vermuthung gewagt, daß das<lb/>
kurze <hi rendition="#i">a</hi> ein kennzeichen der betonung, gleich&#x017F;am der<lb/>
ge&#x017F;undheit aller partikeln abgebe, &#x017F;o wie das &#x017F;pätere,<lb/>
man weiß nicht, ob aus a oder i ent&#x017F;tellte e (nicht das<lb/>
frühere ë vor r, = goth. aí) untergang des tons ver-<lb/>
räth. Die&#x017F;e vocalverdünnung &#x017F;cheint den gegen&#x017F;atz einer<lb/>
gleichunorgani&#x017F;chen verdickung für den betonten fall her-<lb/>
vorgerufen zu haben (ahd. pî, în, zuo = goth. bi, in.<lb/>
du). Uebrigens hat im nhd., wo die betonung in allein-<lb/>
&#x017F;tehenden partikeln gewöhnlich den kurzen vocal ver-<lb/>
dirbt (hêr, hîn, vôr, wohl; &#x017F;tatt hër, hin, vor, wol) die<lb/>
zu&#x017F;. &#x017F;etzung ihn zuweilen erhalten, vgl. vor-theil (&#x017F;. 728.)<lb/>
ur-theil (&#x017F;. 790.) wol-lu&#x017F;t (&#x017F;. 794.) und eben&#x017F;o hin-gang,<lb/>
ab-gang, ab-kunft, ob-dach, in-land, un-&#x017F;chuld, un-<lb/>
glück etc. freilich neben hêr-gang, hêr-kunft, vôr-gang,<lb/>
vôr-zug, ûr-alt, ûr-bild, wohl-leben etc. Zwi&#x017F;chen an-<lb/>
tritt und ân-tritt etc. &#x017F;chwankt die heutige aus&#x017F;prache.</p><lb/>
              <p>3) daß alle mit verbis wirklich zu&#x017F;ammen&#x017F;etzbaren<lb/>
partikeln zugleich <hi rendition="#i">praepo&#x017F;itionen</hi> &#x017F;ind oder waren, i&#x017F;t &#x017F;.<lb/>
698. 699. 866. ge&#x017F;agt worden; es &#x017F;cheint auch von eini-<lb/>
gen behauptet werden zu müßen, die unzertrennlich vor<lb/>
nominibus &#x017F;tehen, z. b. un- und uo-, nicht von allen,<lb/>
z. b. nicht von tus- (zur-), ge&#x017F;chweige von &#x017F;olchen, die<lb/>
außerdem auch getrennt gebraucht werden z. b. váila.</p><lb/>
              <p>4) verzeichni&#x017F;&#x017F;e nach dem zweiten wort, wie bei der<lb/>
eigentlichen &#x017F;ub&#x017F;t. und adj. zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung, aufzu&#x017F;tellen<lb/>
&#x017F;chien bei der partikelcompo&#x017F;ition weder thunlich noch<lb/>
nöthig. Doch werden folgende formen, die, da &#x017F;ie lauter<lb/>
nomina betreffen, lieber gleich &#x017F;. 796. hätten mitgetheilt<lb/>
werden &#x017F;ollen, brauchbar, aber vielfach zu vermehren<lb/>
&#x017F;ein; ahd. gi-chô&#x017F;i (eloquium) â-chô&#x017F;i (delirium) aftar-chô&#x017F;i<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[922/0940] III. partikelcomp. — allgem. bemerkungen. kend und ungleich bei ent- (ſ. 716.) be- (ſ. 718.) ver- (ſ. 725.) und ge- (ſ. 734.). Sitzen bleibt er aber in allen partikeln, die ſich mit verbis nur unvollſtändig binden, ſo wie in den übrigen, wenn ſchon wirklich an nomina gefeßelten. Dies begründet einen unterſchied in der ac- centuierung derſelben partikeln, je nachdem ſie mit einem nomen oder verbum componiert ſind. Alle ableitungen behalten den ton des componierten wortes aus dem ſie gebildet ſind, ſeien fie ſelbſt nomina oder verba (ſ. 919.). Eben das gilt von unorganiſchen bildungen der ſpäteren ſprache, die ohne ableitungsmittel entſpringen, z. b. alle nhd. ſubſt. mit er- (er-weis, er-folg etc.) ſind nach ver- bis (er-weiſen, er-folgen) formiert und haben unbetonte partikel, da ſich mit ſubſt. im hochd. kein er- componiert. Ich habe ſ. 734. note, die vermuthung gewagt, daß das kurze a ein kennzeichen der betonung, gleichſam der geſundheit aller partikeln abgebe, ſo wie das ſpätere, man weiß nicht, ob aus a oder i entſtellte e (nicht das frühere ë vor r, = goth. aí) untergang des tons ver- räth. Dieſe vocalverdünnung ſcheint den gegenſatz einer gleichunorganiſchen verdickung für den betonten fall her- vorgerufen zu haben (ahd. pî, în, zuo = goth. bi, in. du). Uebrigens hat im nhd., wo die betonung in allein- ſtehenden partikeln gewöhnlich den kurzen vocal ver- dirbt (hêr, hîn, vôr, wohl; ſtatt hër, hin, vor, wol) die zuſ. ſetzung ihn zuweilen erhalten, vgl. vor-theil (ſ. 728.) ur-theil (ſ. 790.) wol-luſt (ſ. 794.) und ebenſo hin-gang, ab-gang, ab-kunft, ob-dach, in-land, un-ſchuld, un- glück etc. freilich neben hêr-gang, hêr-kunft, vôr-gang, vôr-zug, ûr-alt, ûr-bild, wohl-leben etc. Zwiſchen an- tritt und ân-tritt etc. ſchwankt die heutige ausſprache. 3) daß alle mit verbis wirklich zuſammenſetzbaren partikeln zugleich praepoſitionen ſind oder waren, iſt ſ. 698. 699. 866. geſagt worden; es ſcheint auch von eini- gen behauptet werden zu müßen, die unzertrennlich vor nominibus ſtehen, z. b. un- und uo-, nicht von allen, z. b. nicht von tus- (zur-), geſchweige von ſolchen, die außerdem auch getrennt gebraucht werden z. b. váila. 4) verzeichniſſe nach dem zweiten wort, wie bei der eigentlichen ſubſt. und adj. zuſammenſetzung, aufzuſtellen ſchien bei der partikelcompoſition weder thunlich noch nöthig. Doch werden folgende formen, die, da ſie lauter nomina betreffen, lieber gleich ſ. 796. hätten mitgetheilt werden ſollen, brauchbar, aber vielfach zu vermehren ſein; ahd. gi-chôſi (eloquium) â-chôſi (delirium) aftar-chôſi

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/940
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 922. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/940>, abgerufen am 19.05.2024.