Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

III. partikelcomp. -- untr. part. mit verb.
nachtheilen unten), glaube ich daß die einstimmung der
historisch älteren goth. ahd. und ags. denkmähler wenig-
stens für das höhere alterthum der partikelanwendung
entscheidet. Im lat. und slav. zeigt sich eine ähnliche
fülle untrennbarer partikeln vor verbis. Erwägt man
ferner, daß im engl. viele einfache verba auftreten, die
im ags., also in dem früheren stand dieser mundart, durch-
aus componiert sind; so wird es zu schließen erlaubt
sein, daß die altn. verba gleichfalls ihre untrennbaren
partikeln, welche sie vordem hatten, verloren haben kön-
nen
, ohne darum die in den part. begründete modifica-
tion der bedeutung einzubüßen. Einige beispiele. Ags.
areisan (surgere) goth. urreisan, das einfache reisan, reisan
kommt gar nicht vor, im engl. macht sich arise immer
seltner und wird durch das einfache rise mit demselben
begriff ausgedrückt. Im altn. gilt nur reisa, dasselbe be-
deutend; kann hier nicht die den sinn von sursum erre-
gende oder stärkende part. abgefallen sein? Das altn.
vinna bezeichnet zweierlei, theils arbeiten, sich mühen,
theils erarbeiten, erlaugen. Im goth. kenne ich nur das
simplex vinnan und bloß im sinn von pati, tolerare, für
die zweite bedeutung gebraucht Ulf. gageigan, er hätte
der form nach gavinnan setzen mögen. Ahd. scheidet
stch winnan (laborare, certare) T. 115, 4. O. II. 3, 115. etc.
von giwinnan (vincere, consequi); später veraltet win-
nen der form und bedeutung nach und nur gewinnen
(vincere, lucrari) besteht. Ags. analoge unterscheidung
zwischen vinnan (laborare, pugnare) und gevinnan (vin-
cere, consequi). Engl. bloß win, aber für ywin, gewin,
denn es drückt vincere, lucrari aus und nicht mehr la-
borare, pugnare. Sollte mithin der zweiten altn. bedeu-
tung die partikel anfangs nicht nothwendig gewesen sein?
so nothwendig sie unserm nhd. erarbeiten ist, wenn es
laborando obtinere bezeichnet im gegensatz zum einfachen
arbeiten (laborare). Dem ags. ondraedan scheint die part.
unentbehrlich, wie dem ahd. intratan, mithin dem engl.
dread abgefallen; mangelte dies verbum im altn. nicht
völlig, so erführen wir vielleicht die noch verborgne be-
deutung des einfachen draedan, tratan. Wir verwech-
seln im nhd. tränken nicht mit ertränken, jenes bedeutet
uns zu trinken geben, dieses ins waßer stürzen, das eine
ist transitivum von trinken, das andere von ertrinken.
Das altn. dreckja drückt aber mergere aus, was unser
ertränken: ist wiederum die partikel erloschen? Solche
beispiele laßen sich leicht mehren. Sie machen es mir

I i i 2

III. partikelcomp. — untr. part. mit verb.
nachtheilen unten), glaube ich daß die einſtimmung der
hiſtoriſch älteren goth. ahd. und agſ. denkmähler wenig-
ſtens für das höhere alterthum der partikelanwendung
entſcheidet. Im lat. und ſlav. zeigt ſich eine ähnliche
fülle untrennbarer partikeln vor verbis. Erwägt man
ferner, daß im engl. viele einfache verba auftreten, die
im agſ., alſo in dem früheren ſtand dieſer mundart, durch-
aus componiert ſind; ſo wird es zu ſchließen erlaubt
ſein, daß die altn. verba gleichfalls ihre untrennbaren
partikeln, welche ſie vordem hatten, verloren haben kön-
nen
, ohne darum die in den part. begründete modifica-
tion der bedeutung einzubüßen. Einige beiſpiele. Agſ.
ârîſan (ſurgere) goth. urreiſan, das einfache rîſan, reiſan
kommt gar nicht vor, im engl. macht ſich ariſe immer
ſeltner und wird durch das einfache riſe mit demſelben
begriff ausgedrückt. Im altn. gilt nur rîſa, daſſelbe be-
deutend; kann hier nicht die den ſinn von ſurſum erre-
gende oder ſtärkende part. abgefallen ſein? Das altn.
vinna bezeichnet zweierlei, theils arbeiten, ſich mühen,
theils erarbeiten, erlaugen. Im goth. kenne ich nur das
ſimplex vinnan und bloß im ſinn von pati, tolerare, für
die zweite bedeutung gebraucht Ulf. gageigan, er hätte
der form nach gavinnan ſetzen mögen. Ahd. ſcheidet
ſtch winnan (laborare, certare) T. 115, 4. O. II. 3, 115. etc.
von giwinnan (vincere, conſequi); ſpäter veraltet win-
nen der form und bedeutung nach und nur gewinnen
(vincere, lucrari) beſteht. Agſ. analoge unterſcheidung
zwiſchen vinnan (laborare, pugnare) und gevinnan (vin-
cere, conſequi). Engl. bloß win, aber für ywin, gewin,
denn es drückt vincere, lucrari aus und nicht mehr la-
borare, pugnare. Sollte mithin der zweiten altn. bedeu-
tung die partikel anfangs nicht nothwendig geweſen ſein?
ſo nothwendig ſie unſerm nhd. erarbeiten iſt, wenn es
laborando obtinere bezeichnet im gegenſatz zum einfachen
arbeiten (laborare). Dem agſ. ondrædan ſcheint die part.
unentbehrlich, wie dem ahd. intrâtan, mithin dem engl.
dread abgefallen; mangelte dies verbum im altn. nicht
völlig, ſo erführen wir vielleicht die noch verborgne be-
deutung des einfachen drædan, trâtan. Wir verwech-
ſeln im nhd. tränken nicht mit ertränken, jenes bedeutet
uns zu trinken geben, dieſes ins waßer ſtürzen, das eine
iſt tranſitivum von trinken, das andere von ertrinken.
Das altn. dreckja drückt aber mergere aus, was unſer
ertränken: iſt wiederum die partikel erloſchen? Solche
beiſpiele laßen ſich leicht mehren. Sie machen es mir

I i i 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0885" n="857[867]"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">partikelcomp. &#x2014; untr. part. mit verb.</hi></hi></fw><lb/>
nachtheilen unten), glaube ich daß die ein&#x017F;timmung der<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;ch älteren goth. ahd. und ag&#x017F;. denkmähler wenig-<lb/>
&#x017F;tens für das höhere alterthum der partikelanwendung<lb/>
ent&#x017F;cheidet. Im lat. und &#x017F;lav. zeigt &#x017F;ich eine ähnliche<lb/>
fülle untrennbarer partikeln vor verbis. Erwägt man<lb/>
ferner, daß im engl. viele einfache verba auftreten, die<lb/>
im ag&#x017F;., al&#x017F;o in dem früheren &#x017F;tand die&#x017F;er mundart, durch-<lb/>
aus componiert &#x017F;ind; &#x017F;o wird es zu &#x017F;chließen erlaubt<lb/>
&#x017F;ein, daß die altn. verba gleichfalls ihre untrennbaren<lb/>
partikeln, welche &#x017F;ie vordem hatten, verloren haben <hi rendition="#i">kön-<lb/>
nen</hi>, ohne darum die in den part. begründete modifica-<lb/>
tion der bedeutung einzubüßen. Einige bei&#x017F;piele. Ag&#x017F;.<lb/>
ârî&#x017F;an (&#x017F;urgere) goth. urrei&#x017F;an, das einfache rî&#x017F;an, rei&#x017F;an<lb/>
kommt gar nicht vor, im engl. macht &#x017F;ich ari&#x017F;e immer<lb/>
&#x017F;eltner und wird durch das einfache ri&#x017F;e mit dem&#x017F;elben<lb/>
begriff ausgedrückt. Im altn. gilt nur rî&#x017F;a, da&#x017F;&#x017F;elbe be-<lb/>
deutend; kann hier nicht die den &#x017F;inn von &#x017F;ur&#x017F;um erre-<lb/>
gende oder &#x017F;tärkende part. abgefallen &#x017F;ein? Das altn.<lb/>
vinna bezeichnet zweierlei, theils arbeiten, &#x017F;ich mühen,<lb/>
theils erarbeiten, erlaugen. Im goth. kenne ich nur das<lb/>
&#x017F;implex vinnan und bloß im &#x017F;inn von pati, tolerare, für<lb/>
die zweite bedeutung gebraucht Ulf. gageigan, er hätte<lb/>
der form nach gavinnan &#x017F;etzen mögen. Ahd. &#x017F;cheidet<lb/>
&#x017F;tch winnan (laborare, certare) T. 115, 4. O. II. 3, 115. etc.<lb/>
von giwinnan (vincere, con&#x017F;equi); &#x017F;päter veraltet win-<lb/>
nen der form und bedeutung nach und nur gewinnen<lb/>
(vincere, lucrari) be&#x017F;teht. Ag&#x017F;. analoge unter&#x017F;cheidung<lb/>
zwi&#x017F;chen vinnan (laborare, pugnare) und gevinnan (vin-<lb/>
cere, con&#x017F;equi). Engl. bloß win, aber für ywin, gewin,<lb/>
denn es drückt vincere, lucrari aus und nicht mehr la-<lb/>
borare, pugnare. Sollte mithin der zweiten altn. bedeu-<lb/>
tung die partikel anfangs nicht nothwendig gewe&#x017F;en &#x017F;ein?<lb/>
&#x017F;o nothwendig &#x017F;ie un&#x017F;erm nhd. erarbeiten i&#x017F;t, wenn es<lb/>
laborando obtinere bezeichnet im gegen&#x017F;atz zum einfachen<lb/>
arbeiten (laborare). Dem ag&#x017F;. ondrædan &#x017F;cheint die part.<lb/>
unentbehrlich, wie dem ahd. intrâtan, mithin dem engl.<lb/>
dread abgefallen; mangelte dies verbum im altn. nicht<lb/>
völlig, &#x017F;o erführen wir vielleicht die noch verborgne be-<lb/>
deutung des einfachen drædan, trâtan. Wir verwech-<lb/>
&#x017F;eln im nhd. tränken nicht mit ertränken, jenes bedeutet<lb/>
uns zu trinken geben, die&#x017F;es ins waßer &#x017F;türzen, das eine<lb/>
i&#x017F;t tran&#x017F;itivum von trinken, das andere von ertrinken.<lb/>
Das altn. dreckja drückt aber mergere aus, was un&#x017F;er<lb/>
ertränken: i&#x017F;t wiederum die partikel erlo&#x017F;chen? Solche<lb/>
bei&#x017F;piele laßen &#x017F;ich leicht mehren. Sie machen es mir<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">I i i 2</fw><lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[857[867]/0885] III. partikelcomp. — untr. part. mit verb. nachtheilen unten), glaube ich daß die einſtimmung der hiſtoriſch älteren goth. ahd. und agſ. denkmähler wenig- ſtens für das höhere alterthum der partikelanwendung entſcheidet. Im lat. und ſlav. zeigt ſich eine ähnliche fülle untrennbarer partikeln vor verbis. Erwägt man ferner, daß im engl. viele einfache verba auftreten, die im agſ., alſo in dem früheren ſtand dieſer mundart, durch- aus componiert ſind; ſo wird es zu ſchließen erlaubt ſein, daß die altn. verba gleichfalls ihre untrennbaren partikeln, welche ſie vordem hatten, verloren haben kön- nen, ohne darum die in den part. begründete modifica- tion der bedeutung einzubüßen. Einige beiſpiele. Agſ. ârîſan (ſurgere) goth. urreiſan, das einfache rîſan, reiſan kommt gar nicht vor, im engl. macht ſich ariſe immer ſeltner und wird durch das einfache riſe mit demſelben begriff ausgedrückt. Im altn. gilt nur rîſa, daſſelbe be- deutend; kann hier nicht die den ſinn von ſurſum erre- gende oder ſtärkende part. abgefallen ſein? Das altn. vinna bezeichnet zweierlei, theils arbeiten, ſich mühen, theils erarbeiten, erlaugen. Im goth. kenne ich nur das ſimplex vinnan und bloß im ſinn von pati, tolerare, für die zweite bedeutung gebraucht Ulf. gageigan, er hätte der form nach gavinnan ſetzen mögen. Ahd. ſcheidet ſtch winnan (laborare, certare) T. 115, 4. O. II. 3, 115. etc. von giwinnan (vincere, conſequi); ſpäter veraltet win- nen der form und bedeutung nach und nur gewinnen (vincere, lucrari) beſteht. Agſ. analoge unterſcheidung zwiſchen vinnan (laborare, pugnare) und gevinnan (vin- cere, conſequi). Engl. bloß win, aber für ywin, gewin, denn es drückt vincere, lucrari aus und nicht mehr la- borare, pugnare. Sollte mithin der zweiten altn. bedeu- tung die partikel anfangs nicht nothwendig geweſen ſein? ſo nothwendig ſie unſerm nhd. erarbeiten iſt, wenn es laborando obtinere bezeichnet im gegenſatz zum einfachen arbeiten (laborare). Dem agſ. ondrædan ſcheint die part. unentbehrlich, wie dem ahd. intrâtan, mithin dem engl. dread abgefallen; mangelte dies verbum im altn. nicht völlig, ſo erführen wir vielleicht die noch verborgne be- deutung des einfachen drædan, trâtan. Wir verwech- ſeln im nhd. tränken nicht mit ertränken, jenes bedeutet uns zu trinken geben, dieſes ins waßer ſtürzen, das eine iſt tranſitivum von trinken, das andere von ertrinken. Das altn. dreckja drückt aber mergere aus, was unſer ertränken: iſt wiederum die partikel erloſchen? Solche beiſpiele laßen ſich leicht mehren. Sie machen es mir I i i 2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/885
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 857[867]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/885>, abgerufen am 19.05.2024.