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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. partikelcomp. -- untr. part. mit verb.
kend *) ausgeübt bei N., wie im mhd., ist dennoch nicht
aus der luft gegriffen **) und kein bloßes ungefähr, denn
sonst würde auch nach wollen, sollen, müßen etc. der
inf. einfacher verba zuweilen ein ge- annehmen, wie
nicht geschieht. (Nach dürfen und türren vielleicht;
vgl. dorfte getragen Nib. 1194; gesorgen Trist. 12706;
getar gesagen Trist. 1226. getorste gereden Trist. 1458;
getorste gewuochern, gefürkoufen, gerouben, gesteln, e
gebrechen Bert. 13.). Welche erklärung läßt sich davon
geben? schwerlich waltet ein zus. hang ob zwischen dem
der partikel anhaftenden vergangenheitsbegriff und der
praeteritivischen natur von mag und kann, welche eben-
wohl eintritt bei soll, muß u. a.; ja dann würde nach
dem wirklichen praet. aller gewöhnlichen verba ein inf.
mit ge- erwartet werden können. Sollte aber nicht die
idee des vermögens nähere beziehung auf dauer und ste-
tigkeit haben und deshalb den nachdruck der partikel
herbeirufen? bei sollen, müßen, wollen etc. ist es offen-
bar anders. Uebrigens hat sich hier die syntax, wie un-
ter d, b. g. die conjugation eines compositionsmittels be-
dient, das in sofern über seine wahre grenze hinaustritt. --
f) es gibt einige schwache participia praet. mit ge-, denen
keine verbalformen zur seite stehen, namentlich ge-stirnt (stel-
lis consitus), das sich schon ahd. findet, ge-stirnet N. Bth. 53.
(versch. von gesternot, astrificus, N. Cap. 85.) vgl. gi-stirntei
(constellatio) doc. 215b f. gi-stirnitei. Weder ein verbum stirnan
noch gi-stirnan ist nachzuweisen, letzteres aber theoretisch
anzunehmen, zugleich deutet das i vor dem r, da sonst
überall sterno gilt, auf ein hohes alter, wo nicht eine ab-
leitung aus dem subst. gi-stirni anzunehmen ist. Gehört
hierher auch das mhd. g-eisert (ferro obductus) Parc. 108c?
ich kenne kein eisern oder g-eisern.

[ver-]; die goth. form ist hier dreifach, theils fair-,
das vor nom. gar nicht, vor verbis nur in drei wör-
tern; theils faur-, das vor sieben verbis; theils fra-,
welches vor einigen nom. und vor zwanzig verbis steht.
Umgedreht zeigt sich die ahd. fra- form höchstens vor
einigen nom. (s. 732.), nie vor verbis (statt fra-deihe pro-

*) es wird sich wohl noch einiges bestimmen laßen, z. b. daß
gewisse abstracta (sein, wesen, werden) sich überall dem ge- verwei-
gern; auch glaube ich, daß vor finden, komen etc. nie ge- statt-
findet: der grundsatz weicht dann einem stärkeren collidierenden.
**) woraus folgt, daß wiederum in die glossare alle infinitive
mit der ge-form bei mögen etc. behutsam einzutragen fiud.

III. partikelcomp. — untr. part. mit verb.
kend *) ausgeübt bei N., wie im mhd., iſt dennoch nicht
aus der luft gegriffen **) und kein bloßes ungefähr, denn
ſonſt würde auch nach wollen, ſollen, müßen etc. der
inf. einfacher verba zuweilen ein ge- annehmen, wie
nicht geſchieht. (Nach dürfen und türren vielleicht;
vgl. dorfte getragen Nib. 1194; geſorgen Triſt. 12706;
getar geſagen Triſt. 1226. getorſte gereden Triſt. 1458;
getorſte gewuochern, gefürkoufen, gerouben, geſteln, ê
gebrëchen Bert. 13.). Welche erklärung läßt ſich davon
geben? ſchwerlich waltet ein zuſ. hang ob zwiſchen dem
der partikel anhaftenden vergangenheitsbegriff und der
praeteritiviſchen natur von mag und kann, welche eben-
wohl eintritt bei ſoll, muß u. a.; ja dann würde nach
dem wirklichen praet. aller gewöhnlichen verba ein inf.
mit ge- erwartet werden können. Sollte aber nicht die
idee des vermögens nähere beziehung auf dauer und ſte-
tigkeit haben und deshalb den nachdruck der partikel
herbeirufen? bei ſollen, müßen, wollen etc. iſt es offen-
bar anders. Uebrigens hat ſich hier die ſyntax, wie un-
ter d, β. γ. die conjugation eines compoſitionsmittels be-
dient, das in ſofern über ſeine wahre grenze hinaustritt. —
f) es gibt einige ſchwache participia praet. mit ge-, denen
keine verbalformen zur ſeite ſtehen, namentlich ge-ſtirnt (ſtel-
lis conſitus), das ſich ſchon ahd. findet, ge-ſtirnet N. Bth. 53.
(verſch. von geſtërnôt, aſtrificus, N. Cap. 85.) vgl. gi-ſtirntî
(conſtellatio) doc. 215b f. gi-ſtirnitî. Weder ein verbum ſtirnan
noch gi-ſtirnan iſt nachzuweiſen, letzteres aber theoretiſch
anzunehmen, zugleich deutet das i vor dem r, da ſonſt
überall ſtërno gilt, auf ein hohes alter, wo nicht eine ab-
leitung aus dem ſubſt. gi-ſtirni anzunehmen iſt. Gehört
hierher auch das mhd. g-îſert (ferro obductus) Parc. 108c?
ich kenne kein îſern oder g-îſern.

[ver-]; die goth. form iſt hier dreifach, theils faír-,
das vor nom. gar nicht, vor verbis nur in drei wör-
tern; theils faúr-, das vor ſieben verbis; theils fra-,
welches vor einigen nom. und vor zwanzig verbis ſteht.
Umgedreht zeigt ſich die ahd. fra- form höchſtens vor
einigen nom. (ſ. 732.), nie vor verbis (ſtatt fra-dîhê pro-

*) es wird ſich wohl noch einiges beſtimmen laßen, z. b. daß
gewiſſe abſtracta (ſîn, wëſen, wërden) ſich überall dem ge- verwei-
gern; auch glaube ich, daß vor finden, komen etc. nie ge- ſtatt-
findet: der grundſatz weicht dann einem ſtärkeren collidierenden.
**) woraus folgt, daß wiederum in die gloſſare alle infinitive
mit der ge-form bei mögen etc. behutſam einzutragen fiud.
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[850/0868] III. partikelcomp. — untr. part. mit verb. kend *) ausgeübt bei N., wie im mhd., iſt dennoch nicht aus der luft gegriffen **) und kein bloßes ungefähr, denn ſonſt würde auch nach wollen, ſollen, müßen etc. der inf. einfacher verba zuweilen ein ge- annehmen, wie nicht geſchieht. (Nach dürfen und türren vielleicht; vgl. dorfte getragen Nib. 1194; geſorgen Triſt. 12706; getar geſagen Triſt. 1226. getorſte gereden Triſt. 1458; getorſte gewuochern, gefürkoufen, gerouben, geſteln, ê gebrëchen Bert. 13.). Welche erklärung läßt ſich davon geben? ſchwerlich waltet ein zuſ. hang ob zwiſchen dem der partikel anhaftenden vergangenheitsbegriff und der praeteritiviſchen natur von mag und kann, welche eben- wohl eintritt bei ſoll, muß u. a.; ja dann würde nach dem wirklichen praet. aller gewöhnlichen verba ein inf. mit ge- erwartet werden können. Sollte aber nicht die idee des vermögens nähere beziehung auf dauer und ſte- tigkeit haben und deshalb den nachdruck der partikel herbeirufen? bei ſollen, müßen, wollen etc. iſt es offen- bar anders. Uebrigens hat ſich hier die ſyntax, wie un- ter d, β. γ. die conjugation eines compoſitionsmittels be- dient, das in ſofern über ſeine wahre grenze hinaustritt. — f) es gibt einige ſchwache participia praet. mit ge-, denen keine verbalformen zur ſeite ſtehen, namentlich ge-ſtirnt (ſtel- lis conſitus), das ſich ſchon ahd. findet, ge-ſtirnet N. Bth. 53. (verſch. von geſtërnôt, aſtrificus, N. Cap. 85.) vgl. gi-ſtirntî (conſtellatio) doc. 215b f. gi-ſtirnitî. Weder ein verbum ſtirnan noch gi-ſtirnan iſt nachzuweiſen, letzteres aber theoretiſch anzunehmen, zugleich deutet das i vor dem r, da ſonſt überall ſtërno gilt, auf ein hohes alter, wo nicht eine ab- leitung aus dem ſubſt. gi-ſtirni anzunehmen iſt. Gehört hierher auch das mhd. g-îſert (ferro obductus) Parc. 108c? ich kenne kein îſern oder g-îſern. [ver-]; die goth. form iſt hier dreifach, theils faír-, das vor nom. gar nicht, vor verbis nur in drei wör- tern; theils faúr-, das vor ſieben verbis; theils fra-, welches vor einigen nom. und vor zwanzig verbis ſteht. Umgedreht zeigt ſich die ahd. fra- form höchſtens vor einigen nom. (ſ. 732.), nie vor verbis (ſtatt fra-dîhê pro- *) es wird ſich wohl noch einiges beſtimmen laßen, z. b. daß gewiſſe abſtracta (ſîn, wëſen, wërden) ſich überall dem ge- verwei- gern; auch glaube ich, daß vor finden, komen etc. nie ge- ſtatt- findet: der grundſatz weicht dann einem ſtärkeren collidierenden. **) woraus folgt, daß wiederum in die gloſſare alle infinitive mit der ge-form bei mögen etc. behutſam einzutragen fiud.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 850. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/868>, abgerufen am 23.11.2024.