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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. wortbildung. einleitung.
wurzeln vorkommen *); so scheint in der ursprache die
wurzel niemahls bloß zu liegen. Dieser satz muß be-
hutsam machen, wenn davon die rede ist, die bedeutung
der wurzeln einer späteren sprache auszumitteln; z. b.
die wurzel hand bedeutete schwerlich manus, weil hand
f. hand-u, hand-us stehet und die verlorene ableitung-u
und flexion -s den begriff jenes subst. aus der wurzel
bestimmen. Das neuengl. fish entspricht sowohl dem
goth. fisk-s (piscis) als fisk-on (piscari), wer könnte
nun aus dem engl. den sinn der wurzel schöpfen? Wirk-
lich oder möglicherweise zerstörte flexionen und ablei-
tungen sind darum immer mit in anschlag zu bringen.

Die wurzelreiche älteste sprache ersreut sich leben-
diger namen und wörter, für deren nothwendige und
geheime beziehungen ihr eine fülle von ablauten und
flexionen zu gebote stehen. Die spätere, indem sie wur-
zeln aufgibt, ablaute fahren läßt, strebt durch förderung
der ableitungen und zusammensetzungen beweglichkeit
und deutlichkeit des ganzen zu vervollkommnen. Man
kann sagen, daß die frühere leichtigkeit der form oft den
gedanken erschwert und neben glücklicher mannigfaltig-
keit der benennungen einseitigkeit kaum vermeidet. Um
dieser auszuweichen, um den gedanken überall zu lösen,
pflegt die jüngere sprache sogar lieber zu umschreiben,
als ableitungen und bildungen beizubehalten, mit denen
sie nicht mehr ausreicht. Für die gesammte wortbil-
dung hat zwar die analogie große gewalt und aus den
grundsätzen fließen reichliche folgerungen ab; allein dem
geistigen wesen der sprache ist es auch wieder angemeßen
gewesen, daß sich kein bildungstrieb vollständig nach
allen seiten hin entfaltete, vielmehr jeder fand im zu-
sammenstoß mit andern und nach besonderheit der mund-
arten seine eigenthümliche begünstigung sowohl als
schranke.

Die einzelnen wortbildungen handle ich nach folgen-
dem plane ab: cap. I. innere wortbildung; cap. II. ab-
leitung; cap. III. zusammensetzung; cap. IV. V. bildung
des pronomens und der partikeln (es ist rathsam, diese

*) Fast nur im nom. subst. dritter decl.; die ausnahmsweisen
lat. imp. es, dic, duc, fac, fer, welche zum deutschen
starken imp. stimmen, bezeichnen anhebendes verderbnis,
frühere denkmähler haben auch noch: duce, dice, face, der
pl. ducite etc. nicht ducte, wie ferte.

III. wortbildung. einleitung.
wurzeln vorkommen *); ſo ſcheint in der urſprache die
wurzel niemahls bloß zu liegen. Dieſer ſatz muß be-
hutſam machen, wenn davon die rede iſt, die bedeutung
der wurzeln einer ſpäteren ſprache auszumitteln; z. b.
die wurzel hand bedeutete ſchwerlich manus, weil hand
f. hand-u, hand-us ſtehet und die verlorene ableitung-u
und flexion -s den begriff jenes ſubſt. aus der wurzel
beſtimmen. Das neuengl. fiſh entſpricht ſowohl dem
goth. fiſk-s (piſcis) als fiſk-ôn (piſcari), wer könnte
nun aus dem engl. den ſinn der wurzel ſchöpfen? Wirk-
lich oder möglicherweiſe zerſtörte flexionen und ablei-
tungen ſind darum immer mit in anſchlag zu bringen.

Die wurzelreiche älteſte ſprache erſreut ſich leben-
diger namen und wörter, für deren nothwendige und
geheime beziehungen ihr eine fülle von ablauten und
flexionen zu gebote ſtehen. Die ſpätere, indem ſie wur-
zeln aufgibt, ablaute fahren läßt, ſtrebt durch förderung
der ableitungen und zuſammenſetzungen beweglichkeit
und deutlichkeit des ganzen zu vervollkommnen. Man
kann ſagen, daß die frühere leichtigkeit der form oft den
gedanken erſchwert und neben glücklicher mannigfaltig-
keit der benennungen einſeitigkeit kaum vermeidet. Um
dieſer auszuweichen, um den gedanken überall zu löſen,
pflegt die jüngere ſprache ſogar lieber zu umſchreiben,
als ableitungen und bildungen beizubehalten, mit denen
ſie nicht mehr ausreicht. Für die geſammte wortbil-
dung hat zwar die analogie große gewalt und aus den
grundſätzen fließen reichliche folgerungen ab; allein dem
geiſtigen weſen der ſprache iſt es auch wieder angemeßen
geweſen, daß ſich kein bildungstrieb vollſtändig nach
allen ſeiten hin entfaltete, vielmehr jeder fand im zu-
ſammenſtoß mit andern und nach beſonderheit der mund-
arten ſeine eigenthümliche begünſtigung ſowohl als
ſchranke.

Die einzelnen wortbildungen handle ich nach folgen-
dem plane ab: cap. I. innere wortbildung; cap. II. ab-
leitung; cap. III. zuſammenſetzung; cap. IV. V. bildung
des pronomens und der partikeln (es iſt rathſam, dieſe

*) Faſt nur im nom. ſubſt. dritter decl.; die ausnahmsweiſen
lat. imp. es, dic, duc, fac, fer, welche zum deutſchen
ſtarken imp. ſtimmen, bezeichnen anhebendes verderbnis,
frühere denkmähler haben auch noch: duce, dice, face, der
pl. ducite etc. nicht ducte, wie ferte.
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[4/0022] III. wortbildung. einleitung. wurzeln vorkommen *); ſo ſcheint in der urſprache die wurzel niemahls bloß zu liegen. Dieſer ſatz muß be- hutſam machen, wenn davon die rede iſt, die bedeutung der wurzeln einer ſpäteren ſprache auszumitteln; z. b. die wurzel hand bedeutete ſchwerlich manus, weil hand f. hand-u, hand-us ſtehet und die verlorene ableitung-u und flexion -s den begriff jenes ſubſt. aus der wurzel beſtimmen. Das neuengl. fiſh entſpricht ſowohl dem goth. fiſk-s (piſcis) als fiſk-ôn (piſcari), wer könnte nun aus dem engl. den ſinn der wurzel ſchöpfen? Wirk- lich oder möglicherweiſe zerſtörte flexionen und ablei- tungen ſind darum immer mit in anſchlag zu bringen. Die wurzelreiche älteſte ſprache erſreut ſich leben- diger namen und wörter, für deren nothwendige und geheime beziehungen ihr eine fülle von ablauten und flexionen zu gebote ſtehen. Die ſpätere, indem ſie wur- zeln aufgibt, ablaute fahren läßt, ſtrebt durch förderung der ableitungen und zuſammenſetzungen beweglichkeit und deutlichkeit des ganzen zu vervollkommnen. Man kann ſagen, daß die frühere leichtigkeit der form oft den gedanken erſchwert und neben glücklicher mannigfaltig- keit der benennungen einſeitigkeit kaum vermeidet. Um dieſer auszuweichen, um den gedanken überall zu löſen, pflegt die jüngere ſprache ſogar lieber zu umſchreiben, als ableitungen und bildungen beizubehalten, mit denen ſie nicht mehr ausreicht. Für die geſammte wortbil- dung hat zwar die analogie große gewalt und aus den grundſätzen fließen reichliche folgerungen ab; allein dem geiſtigen weſen der ſprache iſt es auch wieder angemeßen geweſen, daß ſich kein bildungstrieb vollſtändig nach allen ſeiten hin entfaltete, vielmehr jeder fand im zu- ſammenſtoß mit andern und nach beſonderheit der mund- arten ſeine eigenthümliche begünſtigung ſowohl als ſchranke. Die einzelnen wortbildungen handle ich nach folgen- dem plane ab: cap. I. innere wortbildung; cap. II. ab- leitung; cap. III. zuſammenſetzung; cap. IV. V. bildung des pronomens und der partikeln (es iſt rathſam, dieſe *) Faſt nur im nom. ſubſt. dritter decl.; die ausnahmsweiſen lat. imp. es, dic, duc, fac, fer, welche zum deutſchen ſtarken imp. ſtimmen, bezeichnen anhebendes verderbnis, frühere denkmähler haben auch noch: duce, dice, face, der pl. ducite etc. nicht ducte, wie ferte.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/22>, abgerufen am 26.04.2024.