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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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Vorrede.
cale a, i, u als ableitende angenommen zu haben. Unter
ihnen ist a gleichsam der vornehmste und edelste. Er dul-
det keine entstellung *), wie i in e, u in o, sondern er haftet
oder tritt ganz ab. Keine unter allen deutschen mund-
arten hat das ableitende a länger bewahrt, als die hoch-
deutsche, schon in den ältesten denkmählern wird es aber
wechselnd bald geschrieben, bald ausgelaßen, wahrschein-
lich immer ausgesprochen, während i und u, wo sie ge-
sprochen werden sollen, nothwendig geschrieben sein
müßen. Im sanskrit wird in- und auslautendes i, u ge-
schrieben, in- und auslautendes a nie geschrieben, wohl
aber nach jedem consonauten ausgesprochen (Bopp §. 2.).
Ohne zweifel ist auch a der wahrhafte, organische com-
positionsvocal.

Seite 966. ist der indischen zusammensetzung keine er-
wähnung gethan worden, in der absicht hier noch eini-
ges davon zu sagen. Merkmahl einer wahrhaften zusam-
menfügung zu untheilbarer einheit, erkennen die gram-
matiker an, sei, daß ein declinables wort, ohne irgend ein
zeichen der biegung, einem andern vorgesetzt werde
(Schlegel ind. bibl. 1, 328.). Dies stimmt genau zu der
von mir vorgetragnen erklärung der eigentlichen, jede
flexion ausschließenden zusammensetzung. Allein sie re-
den dabei von gar keinem bindevocal, sondern behaupten
anfügung des ersten worts in seiner nackten, oder soge-
nannten grundform (Bopp §. 115.) an das zweite. Da
aber diese grundform in sehr vielen fällen auf a ausgeht,
so erscheint der größte theil der sanskritischen zusammen-
setzungen (z. b. hima-panduras, schneeweiß; chitra-ketus
buntfahnig; raja-puttras königssöhne; peina-sroni voll-
hüftig) mit einem der wurzel des ersten glieds hinzuge-
fügten a und es bleibt, wenn man die übrigen sprachen
und das sanskrit in einstimmung setzen will, zwischen
zwei annahmen die wahl. Entweder ist auch das goth.
und ahd. a, das griech. und slav. o, das lat. i kein die
composition anzeigender vocal, sondern einer grundform
angehörig oder die ansicht von der indischen grundform
muß modificiert und ebenwohl im sanskritischen a ein
compositionsvocal erkannt werden. Keine dieser voraus-
setzungen scheint mir ohne erhebliche schwierigkeit; bei
der ersten meine ich die meisten zu erblicken. Die ana-
logie der sanskr. griech. und deutschen compositionsvo-

*) von den umlauten des a in e und ö (durch i und u) ist hier
gar nicht die rede.

Vorrede.
cale a, i, u als ableitende angenommen zu haben. Unter
ihnen iſt a gleichſam der vornehmſte und edelſte. Er dul-
det keine entſtellung *), wie i in ë, u in o, ſondern er haftet
oder tritt ganz ab. Keine unter allen deutſchen mund-
arten hat das ableitende a länger bewahrt, als die hoch-
deutſche, ſchon in den älteſten denkmählern wird es aber
wechſelnd bald geſchrieben, bald ausgelaßen, wahrſchein-
lich immer ausgeſprochen, während i und u, wo ſie ge-
ſprochen werden ſollen, nothwendig geſchrieben ſein
müßen. Im ſanſkrit wird in- und auslautendes i, u ge-
ſchrieben, in- und auslautendes a nie geſchrieben, wohl
aber nach jedem conſonauten ausgeſprochen (Bopp §. 2.).
Ohne zweifel iſt auch a der wahrhafte, organiſche com-
poſitionsvocal.

Seite 966. iſt der indiſchen zuſammenſetzung keine er-
wähnung gethan worden, in der abſicht hier noch eini-
ges davon zu ſagen. Merkmahl einer wahrhaften zuſam-
menfügung zu untheilbarer einheit, erkennen die gram-
matiker an, ſei, daß ein declinables wort, ohne irgend ein
zeichen der biegung, einem andern vorgeſetzt werde
(Schlegel ind. bibl. 1, 328.). Dies ſtimmt genau zu der
von mir vorgetragnen erklärung der eigentlichen, jede
flexion ausſchließenden zuſammenſetzung. Allein ſie re-
den dabei von gar keinem bindevocal, ſondern behaupten
anfügung des erſten worts in ſeiner nackten, oder ſoge-
nannten grundform (Bopp §. 115.) an das zweite. Da
aber dieſe grundform in ſehr vielen fällen auf a ausgeht,
ſo erſcheint der größte theil der ſanſkritiſchen zuſammen-
ſetzungen (z. b. hima-pânduras, ſchneeweiß; chitra-kêtus
buntfahnig; râja-puttrâs königsſöhne; pîna-ſrôni voll-
hüftig) mit einem der wurzel des erſten glieds hinzuge-
fügten a und es bleibt, wenn man die übrigen ſprachen
und das ſanſkrit in einſtimmung ſetzen will, zwiſchen
zwei annahmen die wahl. Entweder iſt auch das goth.
und ahd. a, das griech. und ſlav. o, das lat. i kein die
compoſition anzeigender vocal, ſondern einer grundform
angehörig oder die anſicht von der indiſchen grundform
muß modificiert und ebenwohl im ſanſkritiſchen a ein
compoſitionsvocal erkannt werden. Keine dieſer voraus-
ſetzungen ſcheint mir ohne erhebliche ſchwierigkeit; bei
der erſten meine ich die meiſten zu erblicken. Die ana-
logie der ſanſkr. griech. und deutſchen compoſitionsvo-

*) von den umlauten des a in e und ö (durch i und u) iſt hier
gar nicht die rede.
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[VIII/0014] Vorrede. cale a, i, u als ableitende angenommen zu haben. Unter ihnen iſt a gleichſam der vornehmſte und edelſte. Er dul- det keine entſtellung *), wie i in ë, u in o, ſondern er haftet oder tritt ganz ab. Keine unter allen deutſchen mund- arten hat das ableitende a länger bewahrt, als die hoch- deutſche, ſchon in den älteſten denkmählern wird es aber wechſelnd bald geſchrieben, bald ausgelaßen, wahrſchein- lich immer ausgeſprochen, während i und u, wo ſie ge- ſprochen werden ſollen, nothwendig geſchrieben ſein müßen. Im ſanſkrit wird in- und auslautendes i, u ge- ſchrieben, in- und auslautendes a nie geſchrieben, wohl aber nach jedem conſonauten ausgeſprochen (Bopp §. 2.). Ohne zweifel iſt auch a der wahrhafte, organiſche com- poſitionsvocal. Seite 966. iſt der indiſchen zuſammenſetzung keine er- wähnung gethan worden, in der abſicht hier noch eini- ges davon zu ſagen. Merkmahl einer wahrhaften zuſam- menfügung zu untheilbarer einheit, erkennen die gram- matiker an, ſei, daß ein declinables wort, ohne irgend ein zeichen der biegung, einem andern vorgeſetzt werde (Schlegel ind. bibl. 1, 328.). Dies ſtimmt genau zu der von mir vorgetragnen erklärung der eigentlichen, jede flexion ausſchließenden zuſammenſetzung. Allein ſie re- den dabei von gar keinem bindevocal, ſondern behaupten anfügung des erſten worts in ſeiner nackten, oder ſoge- nannten grundform (Bopp §. 115.) an das zweite. Da aber dieſe grundform in ſehr vielen fällen auf a ausgeht, ſo erſcheint der größte theil der ſanſkritiſchen zuſammen- ſetzungen (z. b. hima-pânduras, ſchneeweiß; chitra-kêtus buntfahnig; râja-puttrâs königsſöhne; pîna-ſrôni voll- hüftig) mit einem der wurzel des erſten glieds hinzuge- fügten a und es bleibt, wenn man die übrigen ſprachen und das ſanſkrit in einſtimmung ſetzen will, zwiſchen zwei annahmen die wahl. Entweder iſt auch das goth. und ahd. a, das griech. und ſlav. o, das lat. i kein die compoſition anzeigender vocal, ſondern einer grundform angehörig oder die anſicht von der indiſchen grundform muß modificiert und ebenwohl im ſanſkritiſchen a ein compoſitionsvocal erkannt werden. Keine dieſer voraus- ſetzungen ſcheint mir ohne erhebliche ſchwierigkeit; bei der erſten meine ich die meiſten zu erblicken. Die ana- logie der ſanſkr. griech. und deutſchen compoſitionsvo- *) von den umlauten des a in e und ö (durch i und u) iſt hier gar nicht die rede.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/14>, abgerufen am 26.04.2024.