Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

III. consonantische ableitungen. L.
weil dem oberflächlichen gefühl das ahd. sala, mhd. sal
(traditio) ferner lag, als das masc. sal (aula), welchem
letztern der übertritt aus dem üblichen neutr. in das
masc. (vgl. oben gruoß-s-al) zugeschrieben werden muß.
Ich kenne beinahe keinen mhd. dichter, der im neutr.
oder masc. das natürliche -s-el behauptet hätte, alle
setzen -sal für es-al, -s-al, vgl. derre-sal (ariditas) Georg.
4152.; ehte-sal (persequutio) cod. pal. 361, 12c, 37d; velle-
sal (afflictio) MS. 2, 211b; vluh-sal (was man fliehet)
Parc. 28b Barl. 238, 28.; irre-sal, ir-sal (error, vagatio)
mehrmahls bei Ottoc.; raet-sal (aenigma) Rote im grundr.
301.; nur alle gebrauchen weh-s-el (nie weh-sal) *) und
in der unreinen mundart eines spätern gedichts (lieder-
sal 619.) lese ich trum-s-el (frustum). Doch sind über-
haupt auch die -sal unhäufig.

Kein solches -sal, vielmehr das organische -s-el
kennt die mnl. sprache, vgl. dek-s-el (operculum) Maerl.
1, 131.; doep-s-el (baptismus) 2, 104.; minc-s-el (demi-
nutio) 3, 208; raed-ch-el f. raed-s-el (aenigma) 1, 197.

Merkwürdig bestehen im nhd. beiderlei formen neben
einander; viele -sal dauern in der schriftsprache fort,
viele -s-el haben sich, vielleicht durch die volkssprache,
wieder geltend gemacht. Vgl. drang-sal, feind-sal, irr-
sal, lab-sal, müh-sal, rach-sal (H. Sachs) rinn-sal (altn.
renn-s-l) saum-sal, schick-sal, scheu-sal, trüb-sal, wirr-
sal, zwang-sal; und auf der andern seite: überbleib-s-el,
feg-s-el, füll-s-el, anhäng-s-el, gemeng-s-el, heck-s-el
(d. i. hexel) gemet-s-el (d. i. gemetzel), raet-s-el, schreib-
s-el, schmier-s-el, schnit-s-el (d. i. schnitzel), stöpf-s-el,
wech-s-el, gewin-s-el. Diese scheinen gemeiner, jene
durch ihren wohllaut edler. Doch schließen sich beide
ab und weder drang-s-el, ist zuläßig noch überbleib-sal.
Vielleicht dürfte man einige der letztern form für neutra
zweiter decl. nehmen, z. b. gemengsel, gewinsel für ein
älteres gemengsele, gewinsele?

Nnl. lauter-s-el: bloei-s-el, knie-buig-s-el, dop-s-el,
uit-druk-s-el, begin-s-el, verguld-s-el, mak-s-el, meng-
s-el, rad-s-el, schik-s-el, schrap-s-el, uitspan-s-el, stroi-
s-el, stys-s-el, hand-vat-s-el (ansa) bei-voeg-s-el, wind-s-el
(fascia, involucrum) wis-s-el (cambium) welf-s-el (ge-
wölbe) u. a. m. --

*) eben der frühern coalition des hs. in diesem worte wegen,
weshalb auch nnl. wissel und nicht wiksel steht.

III. conſonantiſche ableitungen. L.
weil dem oberflächlichen gefühl das ahd. ſala, mhd. ſal
(traditio) ferner lag, als das maſc. ſal (aula), welchem
letztern der übertritt aus dem üblichen neutr. in das
maſc. (vgl. oben gruoƷ-ſ-al) zugeſchrieben werden muß.
Ich kenne beinahe keinen mhd. dichter, der im neutr.
oder maſc. das natürliche -ſ-el behauptet hätte, alle
ſetzen -ſal für eſ-al, -ſ-al, vgl. derre-ſal (ariditas) Georg.
4152.; ehte-ſal (perſequutio) cod. pal. 361, 12c, 37d; velle-
ſal (afflictio) MS. 2, 211b; vluh-ſal (was man fliehet)
Parc. 28b Barl. 238, 28.; irre-ſal, ir-ſal (error, vagatio)
mehrmahls bei Ottoc.; ræt-ſal (aenigma) Rote im grundr.
301.; nur alle gebrauchen wëh-ſ-el (nie wëh-ſal) *) und
in der unreinen mundart eines ſpätern gedichts (lieder-
ſal 619.) leſe ich trum-ſ-el (fruſtum). Doch ſind über-
haupt auch die -ſal unhäufig.

Kein ſolches -ſal, vielmehr das organiſche -ſ-el
kennt die mnl. ſprache, vgl. dek-ſ-el (operculum) Maerl.
1, 131.; doep-ſ-el (baptiſmus) 2, 104.; minc-ſ-el (demi-
nutio) 3, 208; raed-ch-el f. raed-ſ-el (aenigma) 1, 197.

Merkwürdig beſtehen im nhd. beiderlei formen neben
einander; viele -ſal dauern in der ſchriftſprache fort,
viele -ſ-el haben ſich, vielleicht durch die volksſprache,
wieder geltend gemacht. Vgl. drang-ſâl, feind-ſâl, irr-
ſâl, lâb-ſâl, muͤh-ſâl, rach-ſâl (H. Sachs) rinn-ſâl (altn.
renn-ſ-l) ſaum-ſâl, ſchick-ſâl, ſcheu-ſâl, truͤb-ſâl, wirr-
ſâl, zwang-ſâl; und auf der andern ſeite: überbleib-ſ-el,
fêg-ſ-el, füll-ſ-el, anhäng-ſ-el, gemeng-ſ-el, heck-ſ-el
(d. i. hexel) gemet-ſ-el (d. i. gemetzel), ræt-ſ-el, ſchreib-
ſ-el, ſchmier-ſ-el, ſchnit-ſ-el (d. i. ſchnitzel), ſtöpf-ſ-el,
wech-ſ-el, gewin-ſ-el. Dieſe ſcheinen gemeiner, jene
durch ihren wohllaut edler. Doch ſchließen ſich beide
ab und weder drang-ſ-el, iſt zuläßig noch überbleib-ſal.
Vielleicht dürfte man einige der letztern form für neutra
zweiter decl. nehmen, z. b. gemengſel, gewinſel für ein
älteres gemengſele, gewinſele?

Nnl. lauter-ſ-el: bloei-ſ-el, knie-buig-ſ-el, dôp-ſ-el,
uit-druk-ſ-el, begin-ſ-el, verguld-ſ-el, mâk-ſ-el, meng-
ſ-el, râd-ſ-el, ſchik-ſ-el, ſchrâp-ſ-el, uitſpan-ſ-el, ſtroi-
ſ-el, ſtyſ-ſ-el, hand-vat-ſ-el (anſa) bî-voeg-ſ-el, wind-ſ-el
(faſcia, involucrum) wiſ-ſ-el (cambium) welf-ſ-el (ge-
wölbe) u. a. m. —

*) eben der frühern coalition des hſ. in dieſem worte wegen,
weshalb auch nnl. wiſſel und nicht wikſel ſteht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0125" n="107"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">con&#x017F;onanti&#x017F;che ableitungen. L.</hi></hi></fw><lb/>
weil dem oberflächlichen gefühl das ahd. &#x017F;ala, mhd. &#x017F;al<lb/>
(traditio) ferner lag, als das ma&#x017F;c. &#x017F;al (aula), welchem<lb/>
letztern der übertritt aus dem üblichen neutr. in das<lb/>
ma&#x017F;c. (vgl. oben gruo&#x01B7;-&#x017F;-al) zuge&#x017F;chrieben werden muß.<lb/>
Ich kenne beinahe keinen mhd. dichter, der im neutr.<lb/>
oder ma&#x017F;c. das natürliche -&#x017F;-el behauptet hätte, alle<lb/>
&#x017F;etzen -&#x017F;al für e&#x017F;-al, -&#x017F;-al, vgl. derre-&#x017F;al (ariditas) Georg.<lb/>
4152.; ehte-&#x017F;al (per&#x017F;equutio) cod. pal. 361, 12<hi rendition="#sup">c</hi>, 37<hi rendition="#sup">d</hi>; velle-<lb/>
&#x017F;al (afflictio) MS. 2, 211<hi rendition="#sup">b</hi>; vluh-&#x017F;al (was man fliehet)<lb/>
Parc. 28<hi rendition="#sup">b</hi> Barl. 238, 28.; irre-&#x017F;al, ir-&#x017F;al (error, vagatio)<lb/>
mehrmahls bei Ottoc.; ræt-&#x017F;al (aenigma) Rote im grundr.<lb/>
301.; nur alle gebrauchen wëh-&#x017F;-el (nie wëh-&#x017F;al) <note place="foot" n="*)">eben der <hi rendition="#i">frühern</hi> coalition des h&#x017F;. in die&#x017F;em worte wegen,<lb/>
weshalb auch nnl. wi&#x017F;&#x017F;el und nicht wik&#x017F;el &#x017F;teht.</note> und<lb/>
in der unreinen mundart eines &#x017F;pätern gedichts (lieder-<lb/>
&#x017F;al 619.) le&#x017F;e ich trum-&#x017F;-el (fru&#x017F;tum). Doch &#x017F;ind über-<lb/>
haupt auch die -&#x017F;al unhäufig.</p><lb/>
              <p>Kein &#x017F;olches -&#x017F;al, vielmehr das organi&#x017F;che -&#x017F;-el<lb/>
kennt die mnl. &#x017F;prache, vgl. dek-&#x017F;-el (operculum) Maerl.<lb/>
1, 131.; doep-&#x017F;-el (bapti&#x017F;mus) 2, 104.; minc-&#x017F;-el (demi-<lb/>
nutio) 3, 208; raed-ch-el f. raed-&#x017F;-el (aenigma) 1, 197.</p><lb/>
              <p>Merkwürdig be&#x017F;tehen im nhd. beiderlei formen neben<lb/>
einander; viele -&#x017F;al dauern in der &#x017F;chrift&#x017F;prache fort,<lb/>
viele -&#x017F;-el haben &#x017F;ich, vielleicht durch die volks&#x017F;prache,<lb/>
wieder geltend gemacht. Vgl. drang-&#x017F;âl, feind-&#x017F;âl, irr-<lb/>
&#x017F;âl, lâb-&#x017F;âl, mu&#x0364;h-&#x017F;âl, rach-&#x017F;âl (H. Sachs) rinn-&#x017F;âl (altn.<lb/>
renn-&#x017F;-l) &#x017F;aum-&#x017F;âl, &#x017F;chick-&#x017F;âl, &#x017F;cheu-&#x017F;âl, tru&#x0364;b-&#x017F;âl, wirr-<lb/>
&#x017F;âl, zwang-&#x017F;âl; und auf der andern &#x017F;eite: überbleib-&#x017F;-el,<lb/>
fêg-&#x017F;-el, füll-&#x017F;-el, anhäng-&#x017F;-el, gemeng-&#x017F;-el, heck-&#x017F;-el<lb/>
(d. i. hexel) gemet-&#x017F;-el (d. i. gemetzel), ræt-&#x017F;-el, &#x017F;chreib-<lb/>
&#x017F;-el, &#x017F;chmier-&#x017F;-el, &#x017F;chnit-&#x017F;-el (d. i. &#x017F;chnitzel), &#x017F;töpf-&#x017F;-el,<lb/>
wech-&#x017F;-el, gewin-&#x017F;-el. Die&#x017F;e &#x017F;cheinen gemeiner, jene<lb/>
durch ihren wohllaut edler. Doch &#x017F;chließen &#x017F;ich beide<lb/>
ab und weder drang-&#x017F;-el, i&#x017F;t zuläßig noch überbleib-&#x017F;al.<lb/>
Vielleicht dürfte man einige der letztern form für neutra<lb/>
zweiter decl. nehmen, z. b. gemeng&#x017F;el, gewin&#x017F;el für ein<lb/>
älteres gemeng&#x017F;ele, gewin&#x017F;ele?</p><lb/>
              <p>Nnl. lauter-&#x017F;-el: bloei-&#x017F;-el, knie-buig-&#x017F;-el, dôp-&#x017F;-el,<lb/>
uit-druk-&#x017F;-el, begin-&#x017F;-el, verguld-&#x017F;-el, mâk-&#x017F;-el, meng-<lb/>
&#x017F;-el, râd-&#x017F;-el, &#x017F;chik-&#x017F;-el, &#x017F;chrâp-&#x017F;-el, uit&#x017F;pan-&#x017F;-el, &#x017F;troi-<lb/>
&#x017F;-el, &#x017F;ty&#x017F;-&#x017F;-el, hand-vat-&#x017F;-el (an&#x017F;a) bî-voeg-&#x017F;-el, wind-&#x017F;-el<lb/>
(fa&#x017F;cia, involucrum) wi&#x017F;-&#x017F;-el (cambium) welf-&#x017F;-el (ge-<lb/>
wölbe) u. a. m. &#x2014;</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0125] III. conſonantiſche ableitungen. L. weil dem oberflächlichen gefühl das ahd. ſala, mhd. ſal (traditio) ferner lag, als das maſc. ſal (aula), welchem letztern der übertritt aus dem üblichen neutr. in das maſc. (vgl. oben gruoƷ-ſ-al) zugeſchrieben werden muß. Ich kenne beinahe keinen mhd. dichter, der im neutr. oder maſc. das natürliche -ſ-el behauptet hätte, alle ſetzen -ſal für eſ-al, -ſ-al, vgl. derre-ſal (ariditas) Georg. 4152.; ehte-ſal (perſequutio) cod. pal. 361, 12c, 37d; velle- ſal (afflictio) MS. 2, 211b; vluh-ſal (was man fliehet) Parc. 28b Barl. 238, 28.; irre-ſal, ir-ſal (error, vagatio) mehrmahls bei Ottoc.; ræt-ſal (aenigma) Rote im grundr. 301.; nur alle gebrauchen wëh-ſ-el (nie wëh-ſal) *) und in der unreinen mundart eines ſpätern gedichts (lieder- ſal 619.) leſe ich trum-ſ-el (fruſtum). Doch ſind über- haupt auch die -ſal unhäufig. Kein ſolches -ſal, vielmehr das organiſche -ſ-el kennt die mnl. ſprache, vgl. dek-ſ-el (operculum) Maerl. 1, 131.; doep-ſ-el (baptiſmus) 2, 104.; minc-ſ-el (demi- nutio) 3, 208; raed-ch-el f. raed-ſ-el (aenigma) 1, 197. Merkwürdig beſtehen im nhd. beiderlei formen neben einander; viele -ſal dauern in der ſchriftſprache fort, viele -ſ-el haben ſich, vielleicht durch die volksſprache, wieder geltend gemacht. Vgl. drang-ſâl, feind-ſâl, irr- ſâl, lâb-ſâl, muͤh-ſâl, rach-ſâl (H. Sachs) rinn-ſâl (altn. renn-ſ-l) ſaum-ſâl, ſchick-ſâl, ſcheu-ſâl, truͤb-ſâl, wirr- ſâl, zwang-ſâl; und auf der andern ſeite: überbleib-ſ-el, fêg-ſ-el, füll-ſ-el, anhäng-ſ-el, gemeng-ſ-el, heck-ſ-el (d. i. hexel) gemet-ſ-el (d. i. gemetzel), ræt-ſ-el, ſchreib- ſ-el, ſchmier-ſ-el, ſchnit-ſ-el (d. i. ſchnitzel), ſtöpf-ſ-el, wech-ſ-el, gewin-ſ-el. Dieſe ſcheinen gemeiner, jene durch ihren wohllaut edler. Doch ſchließen ſich beide ab und weder drang-ſ-el, iſt zuläßig noch überbleib-ſal. Vielleicht dürfte man einige der letztern form für neutra zweiter decl. nehmen, z. b. gemengſel, gewinſel für ein älteres gemengſele, gewinſele? Nnl. lauter-ſ-el: bloei-ſ-el, knie-buig-ſ-el, dôp-ſ-el, uit-druk-ſ-el, begin-ſ-el, verguld-ſ-el, mâk-ſ-el, meng- ſ-el, râd-ſ-el, ſchik-ſ-el, ſchrâp-ſ-el, uitſpan-ſ-el, ſtroi- ſ-el, ſtyſ-ſ-el, hand-vat-ſ-el (anſa) bî-voeg-ſ-el, wind-ſ-el (faſcia, involucrum) wiſ-ſ-el (cambium) welf-ſ-el (ge- wölbe) u. a. m. — *) eben der frühern coalition des hſ. in dieſem worte wegen, weshalb auch nnl. wiſſel und nicht wikſel ſteht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/125
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/125>, abgerufen am 02.05.2024.