dessen setzung man an sich, in den meisten fällen min- destens, am geringsten verlegen seyn würde; tieftonige zeigen sie zuweilen, tonlose und stumme laute gar nicht an. Eine reichlichere quelle fließt uns inzwischen aus der mittelhochdeutschen dichtkunst zu, durch deren nähere untersuchung Lachmann neuerdings so lehrreiche aufschlüße über die damahlige accentuation gewonnen hat. Damit muß man endlich ein genaues und verglei- chendes studium der accente in den noch lebenden deutschen sprachen, zumahl nach den gedichten ver- binden und durch analogie auf die verlorene betonung der alten zu schließen trachten. Hier und ehe einmahl die buchstabenlehre abgehandelt ist, können nur einige ganz allgemeine sätze aufgestellt werden.
1) mit länge und kürze, wie aus dem vorhergesagten klar ist, haben die tonstufen ursprünglich nichts ge- mein; lange sowohl als kurze silben können den acu- tus oder den gravis bekommen und lange sowohl als kurze tonlos und stumm werden.
2) die bekannte regel, daß der ton auf die wurzel falle, bedarf näherer bestimmung. Nämlich bei dem un- zusammengesetzten nomen, verbum, oft auch adver- bium hat die wurzel den acutus, also für diesen fall in mehrsilbigen wörtern stets die erste silbe. Bei zusam- mensetzungen bekommt aber die wurzel oft bloßen tief- ton (tonlos oder stumm werden kann sie nie oder höchst selten). Den hoch- oder tiefton zu ermitteln hält hier schon schwer, zumahl in dem fall der vorsilben. Die nordische sprache legt der vorsilbe beständig den acutus, der folgenden wurzel den gravis zu (Rask §. 52.) z. b. landskapr, mismunr, umganga. Die neuhochdeutsche hält es zwar mit landschaft, misgunst, umgehen (con- versari) ebenso, allein sie besitzt vorpartikeln in menge und schwankt in deren betonung nach noch unerforsch- ten gesetzen und gewohnheiten, z. b. bei den vorsilben ge-be-ver-zer- etc. ist die nordische regel unpassend, denn die wurzel behält den acutus, ja die vorsilbe bleibt tonlos, z. b. benehmen, geloben etc. Andere vorsilben haben, wie im nordischen, den acutus, die wurzel den gravis, z. b. ab-auf-an- etc. wie: abneh- men, aufgehen, ankunft. Häufig steht einer und dersel- ben partikel verschiedener ton zu, da in umfang, un- glück die wurzel tief, in unendlich, umfangen (am- plecti), umgehen (praetergredi) hoch tönt. Ich führe
I. von den buchſtaben insgemein.
deſſen ſetzung man an ſich, in den meiſten fällen min- deſtens, am geringſten verlegen ſeyn würde; tieftonige zeigen ſie zuweilen, tonloſe und ſtumme laute gar nicht an. Eine reichlichere quelle fließt uns inzwiſchen aus der mittelhochdeutſchen dichtkunſt zu, durch deren nähere unterſuchung Lachmann neuerdings ſo lehrreiche aufſchlüße über die damahlige accentuation gewonnen hat. Damit muß man endlich ein genaues und verglei- chendes ſtudium der accente in den noch lebenden deutſchen ſprachen, zumahl nach den gedichten ver- binden und durch analogie auf die verlorene betonung der alten zu ſchließen trachten. Hier und ehe einmahl die buchſtabenlehre abgehandelt iſt, können nur einige ganz allgemeine ſätze aufgeſtellt werden.
1) mit länge und kürze, wie aus dem vorhergeſagten klar iſt, haben die tonſtufen urſprünglich nichts ge- mein; lange ſowohl als kurze ſilben können den acu- tus oder den gravis bekommen und lange ſowohl als kurze tonlos und ſtumm werden.
2) die bekannte regel, daß der ton auf die wurzel falle, bedarf näherer beſtimmung. Nämlich bei dem un- zuſammengeſetzten nomen, verbum, oft auch adver- bium hat die wurzel den acutus, alſo für dieſen fall in mehrſilbigen wörtern ſtets die erſte ſilbe. Bei zuſam- menſetzungen bekommt aber die wurzel oft bloßen tief- ton (tonlos oder ſtumm werden kann ſie nie oder höchſt ſelten). Den hoch- oder tiefton zu ermitteln hält hier ſchon ſchwer, zumahl in dem fall der vorſilben. Die nordiſche ſprache legt der vorſilbe beſtändig den acutus, der folgenden wurzel den gravis zu (Raſk §. 52.) z. b. landſkapr, mismunr, umgânga. Die neuhochdeutſche hält es zwar mit landſchaft, misgunſt, umgehen (con- verſari) ebenſo, allein ſie beſitzt vorpartikeln in menge und ſchwankt in deren betonung nach noch unerforſch- ten geſetzen und gewohnheiten, z. b. bei den vorſilben ge-be-ver-zer- etc. iſt die nordiſche regel unpaſſend, denn die wurzel behält den acutus, ja die vorſilbe bleibt tonlos, z. b. benehmen, geloben etc. Andere vorſilben haben, wie im nordiſchen, den acutus, die wurzel den gravis, z. b. ab-auf-an- etc. wie: abneh- men, aufgehen, ankunft. Häufig ſteht einer und derſel- ben partikel verſchiedener ton zu, da in umfang, un- glück die wurzel tief, in unendlich, umfangen (am- plecti), umgehen (praetergredi) hoch tönt. Ich führe
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I. von den buchſtaben insgemein.
deſſen ſetzung man an ſich, in den meiſten fällen min-
deſtens, am geringſten verlegen ſeyn würde; tieftonige
zeigen ſie zuweilen, tonloſe und ſtumme laute gar nicht
an. Eine reichlichere quelle fließt uns inzwiſchen aus
der mittelhochdeutſchen dichtkunſt zu, durch deren
nähere unterſuchung Lachmann neuerdings ſo lehrreiche
aufſchlüße über die damahlige accentuation gewonnen
hat. Damit muß man endlich ein genaues und verglei-
chendes ſtudium der accente in den noch lebenden
deutſchen ſprachen, zumahl nach den gedichten ver-
binden und durch analogie auf die verlorene betonung
der alten zu ſchließen trachten. Hier und ehe einmahl
die buchſtabenlehre abgehandelt iſt, können nur einige
ganz allgemeine ſätze aufgeſtellt werden.
1) mit länge und kürze, wie aus dem vorhergeſagten
klar iſt, haben die tonſtufen urſprünglich nichts ge-
mein; lange ſowohl als kurze ſilben können den acu-
tus oder den gravis bekommen und lange ſowohl als
kurze tonlos und ſtumm werden.
2) die bekannte regel, daß der ton auf die wurzel
falle, bedarf näherer beſtimmung. Nämlich bei dem un-
zuſammengeſetzten nomen, verbum, oft auch adver-
bium hat die wurzel den acutus, alſo für dieſen fall in
mehrſilbigen wörtern ſtets die erſte ſilbe. Bei zuſam-
menſetzungen bekommt aber die wurzel oft bloßen tief-
ton (tonlos oder ſtumm werden kann ſie nie oder höchſt
ſelten). Den hoch- oder tiefton zu ermitteln hält hier
ſchon ſchwer, zumahl in dem fall der vorſilben. Die
nordiſche ſprache legt der vorſilbe beſtändig den acutus,
der folgenden wurzel den gravis zu (Raſk §. 52.) z. b.
landſkapr, mismunr, umgânga. Die neuhochdeutſche
hält es zwar mit landſchaft, misgunſt, umgehen (con-
verſari) ebenſo, allein ſie beſitzt vorpartikeln in menge
und ſchwankt in deren betonung nach noch unerforſch-
ten geſetzen und gewohnheiten, z. b. bei den vorſilben
ge-be-ver-zer- etc. iſt die nordiſche regel unpaſſend,
denn die wurzel behält den acutus, ja die vorſilbe
bleibt tonlos, z. b. benehmen, geloben etc. Andere
vorſilben haben, wie im nordiſchen, den acutus, die
wurzel den gravis, z. b. ab-auf-an- etc. wie: abneh-
men, aufgehen, ankunft. Häufig ſteht einer und derſel-
ben partikel verſchiedener ton zu, da in umfang, un-
glück die wurzel tief, in unendlich, umfangen (am-
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/48>, abgerufen am 21.11.2024.
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