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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelhochdeutsche vocale.
schichte des deutschen reims lehrt uns überhaupt all-
mählige auflösungen stumpfer in klingende; nur war
die neigung dazu in weit früherer zeit und schon bei
Otfried vorhanden, weil er sonst nicht so sichtbar
nach dem gleichlaut der wurzeln gestrebt (alter:zalter,
henti:enti, scinit:reinit, meinaß, theinaß etc.) und sich
an der letzten stumpfen silbe (meinaß:thaß etc.) be-
gnügt hätte, vgl. oben s. 16. 17. Dieses schwanken
zwischen klingendem und stumpfem reim verrathen denn
auch die mittelh. bunde:gunde, hagene:degene etc.
da bei allen theils überwiegender, theils völliger wur-
zelgleichlaut eintrifft, zum roh stumpfen reim rück-
sicht auf den auslaut hingereicht hätte, man vgl. die
reime Kürenbergers 1, 38.
8) analoge vocalkürzungen oder verwandlungen ereig-
nen sich bei der inclination und zwar auf doppelte
weise a) die anlehnende silbe, indem sie ihren ton
auf die, welcher sie sich anfügt, überträgt, verdünnt
dadurch ihren laut. Hauptfall ist das pron. dritter
person. Unangelehnt reimt er auf ger, sper, her (Ma-
ria 16. Barl. [ - 1 Zeichen fehlt]01. Wig. 22. Karl 38a) angelehnt wird
es zu tonlosem er und bater, jater reimt: vater
(Barl. 87. Wilh. 2, 3b, [ - 1 Zeichen fehlt]a 45a 67b) vander:ander (Wilh.
2, 25a 170b Parc. 111b 142b) aßer:waßer (Wilh. 2,
124b Ernst 20a) mohter:tohter (Maria 19. Wilh. 2, 70a
84b) zoher:hoher (Trist. 18a 25b) erscheiner:einer
(Maria 168). Ebenso verhält es sich mit sahen (f. sach
in) sluogen (f. sluoc in) gaber (gap ir) fise (sei si) etc.
Die pron. 1 und 2ter pers. ändern sich bei der inclin.
nicht, vgl. magich (mac ich) zweivelstau:nau Barl. 304.)
bistau:zuo (Trist. 19c) chumstau:zuo (Parc. 89a Wilh. 2,
67b) die anlehnung scheint hier den ton höchstens zu
schwächen, nicht zu benehmen und nur unbetonte vo-
calauslaute leiden verkürzung (oben s. 331.); biste:liste
(eneit 18a) wohl unhochdeutsch. -- b) unursprünglich
lange vocalauslaute verkürzen sich, sobald ihnen eine
mit consonanz anhebende silbe incliniert; sie werden
dadurch inlautend und nehmen die anfängliche kürze
wieder an. So wird dau durch anlehnung des pron.
3ter pers. kurz. wie die reime meldestun, verderbe-
stun, gebaerestun:sun (troj. 36c 49a schmiede 1127) be-
weisen; gleicherweise duß (:schuß Georg 47b) dus für
dau eß, dau es; sor f. so er etc. Am häufigsten werden
diese kürzungen aus incl. der negation ne entspringen,
vgl, dane, jane, dine, sine, nine, wine, sone, dune,
A a 2
I. mittelhochdeutſche vocale.
ſchichte des deutſchen reims lehrt uns überhaupt all-
mählige auflöſungen ſtumpfer in klingende; nur war
die neigung dazu in weit früherer zeit und ſchon bei
Otfried vorhanden, weil er ſonſt nicht ſo ſichtbar
nach dem gleichlaut der wurzeln geſtrebt (alter:zalter,
henti:enti, ſcìnit:rînit, mînaƷ, thînaƷ etc.) und ſich
an der letzten ſtumpfen ſilbe (mînaƷ:thaƷ etc.) be-
gnügt hätte, vgl. oben ſ. 16. 17. Dieſes ſchwanken
zwiſchen klingendem und ſtumpfem reim verrathen denn
auch die mittelh. bundè:gundè, hagenè:degenè etc.
da bei allen theils überwiegender, theils völliger wur-
zelgleichlaut eintrifft, zum roh ſtumpfen reim rück-
ſicht auf den auslaut hingereicht hätte, man vgl. die
reime Kürenbergers 1, 38.
8) analoge vocalkürzungen oder verwandlungen ereig-
nen ſich bei der inclination und zwar auf doppelte
weiſe a) die anlehnende ſilbe, indem ſie ihren ton
auf die, welcher ſie ſich anfügt, überträgt, verdünnt
dadurch ihren laut. Hauptfall iſt das pron. dritter
perſon. Unangelehnt reimt ër auf gër, ſpër, hër (Ma-
ria 16. Barl. [ – 1 Zeichen fehlt]01. Wig. 22. Karl 38a) angelehnt wird
es zu tonloſem er und bater, jater reimt: vater
(Barl. 87. Wilh. 2, 3b, [ – 1 Zeichen fehlt]a 45a 67b) vander:ander (Wilh.
2, 25a 170b Parc. 111b 142b) aƷƷer:waƷƷer (Wilh. 2,
124b Ernſt 20a) mohter:tohter (Maria 19. Wilh. 2, 70a
84b) zôher:hôher (Triſt. 18a 25b) erſcheiner:einer
(Maria 168). Ebenſo verhält es ſich mit ſahen (f. ſach
in) ſluogen (f. ſluoc in) gaber (gap ir) fiſe (ſî ſì) etc.
Die pron. 1 und 2ter perſ. ändern ſich bei der inclin.
nicht, vgl. magich (mac ich) zwîvelſtû:nû Barl. 304.)
biſtû:zuo (Triſt. 19c) chumſtû:zuo (Parc. 89a Wilh. 2,
67b) die anlehnung ſcheint hier den ton höchſtens zu
ſchwächen, nicht zu benehmen und nur unbetonte vo-
calauslaute leiden verkürzung (oben ſ. 331.); biſte:liſte
(êneit 18a) wohl unhochdeutſch. — b) unurſprünglich
lange vocalauslaute verkürzen ſich, ſobald ihnen eine
mit conſonanz anhebende ſilbe incliniert; ſie werden
dadurch inlautend und nehmen die anfängliche kürze
wieder an. So wird dû durch anlehnung des pron.
3ter perſ. kurz. wie die reime mëldeſtun, verderbe-
ſtun, gebæreſtun:ſun (troj. 36c 49a ſchmiede 1127) be-
weiſen; gleicherweiſe duƷ (:ſchuƷ Georg 47b) dus für
dû ëƷ, dû ës; ſor f. ſô ër etc. Am häufigſten werden
dieſe kürzungen aus incl. der negation ne entſpringen,
vgl, dane, jane, dine, ſine, nine, wine, ſone, dune,
A a 2
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[371/0397] I. mittelhochdeutſche vocale. ſchichte des deutſchen reims lehrt uns überhaupt all- mählige auflöſungen ſtumpfer in klingende; nur war die neigung dazu in weit früherer zeit und ſchon bei Otfried vorhanden, weil er ſonſt nicht ſo ſichtbar nach dem gleichlaut der wurzeln geſtrebt (alter:zalter, henti:enti, ſcìnit:rînit, mînaƷ, thînaƷ etc.) und ſich an der letzten ſtumpfen ſilbe (mînaƷ:thaƷ etc.) be- gnügt hätte, vgl. oben ſ. 16. 17. Dieſes ſchwanken zwiſchen klingendem und ſtumpfem reim verrathen denn auch die mittelh. bundè:gundè, hagenè:degenè etc. da bei allen theils überwiegender, theils völliger wur- zelgleichlaut eintrifft, zum roh ſtumpfen reim rück- ſicht auf den auslaut hingereicht hätte, man vgl. die reime Kürenbergers 1, 38. 8) analoge vocalkürzungen oder verwandlungen ereig- nen ſich bei der inclination und zwar auf doppelte weiſe a) die anlehnende ſilbe, indem ſie ihren ton auf die, welcher ſie ſich anfügt, überträgt, verdünnt dadurch ihren laut. Hauptfall iſt das pron. dritter perſon. Unangelehnt reimt ër auf gër, ſpër, hër (Ma- ria 16. Barl. _01. Wig. 22. Karl 38a) angelehnt wird es zu tonloſem er und bater, jater reimt: vater (Barl. 87. Wilh. 2, 3b, _a 45a 67b) vander:ander (Wilh. 2, 25a 170b Parc. 111b 142b) aƷƷer:waƷƷer (Wilh. 2, 124b Ernſt 20a) mohter:tohter (Maria 19. Wilh. 2, 70a 84b) zôher:hôher (Triſt. 18a 25b) erſcheiner:einer (Maria 168). Ebenſo verhält es ſich mit ſahen (f. ſach in) ſluogen (f. ſluoc in) gaber (gap ir) fiſe (ſî ſì) etc. Die pron. 1 und 2ter perſ. ändern ſich bei der inclin. nicht, vgl. magich (mac ich) zwîvelſtû:nû Barl. 304.) biſtû:zuo (Triſt. 19c) chumſtû:zuo (Parc. 89a Wilh. 2, 67b) die anlehnung ſcheint hier den ton höchſtens zu ſchwächen, nicht zu benehmen und nur unbetonte vo- calauslaute leiden verkürzung (oben ſ. 331.); biſte:liſte (êneit 18a) wohl unhochdeutſch. — b) unurſprünglich lange vocalauslaute verkürzen ſich, ſobald ihnen eine mit conſonanz anhebende ſilbe incliniert; ſie werden dadurch inlautend und nehmen die anfängliche kürze wieder an. So wird dû durch anlehnung des pron. 3ter perſ. kurz. wie die reime mëldeſtun, verderbe- ſtun, gebæreſtun:ſun (troj. 36c 49a ſchmiede 1127) be- weiſen; gleicherweiſe duƷ (:ſchuƷ Georg 47b) dus für dû ëƷ, dû ës; ſor f. ſô ër etc. Am häufigſten werden dieſe kürzungen aus incl. der negation ne entſpringen, vgl, dane, jane, dine, ſine, nine, wine, ſone, dune, A a 2

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/397>, abgerufen am 26.11.2024.