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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. von den buchstaben insgemein.
rücksicht. Diese gesetze an sich selbst sind gleichwohl so
einfach und in der natur menschlicher sprache so sehr be-
gründet, daß eine historische untersuchung der deutschen
nothwendig auf die frage führen muß. ob nicht wenig-
stens in verfloßenen zeiten prosodische grundsätze merk-
lich vorgewaltet haben und aus welchen spuren das noch
zu erkennen seyn wird? Sind doch die neugriechis he
und romanische sprache der alten griechischen und la-
teinischen quantität verlustig geworden; warum sollte
die analogie dieser fortbildung oder verbildung nicht
auch für die deutsche geltend gemacht werden dürfen?
geht hier der sprachgeist keinen natürlichen gang? Ich
glaube daß etwa folgende puncte anzuschlagen wären:

1) die gedehnten und diphthongischen laute in den al-
ten flexions- und bildungsendungen weisen darauf, daß
die heutige betonung ganz derselben wörter u. formen
ihren ehmahligen zustand nicht ausreichend erkläre, ge-
schweige sinnlich erschöpfe. Man halte unser: tage
(dies), wege (vias), hat (habet), bitte (peto) zu dem
goth. dagos, vigos, habaith, bidja oder dem alth. taga,
wega, habet, pittu; weiter: steine (lapides) salbes (un-
gis) zu stainos, salbos; niemand zweifelt wohl, daß die
heutzutage gleichtonigen silben tag, weg, stein, salb vor
alters nicht auf einer reihe gestanden haben können, es
ist sehr glaublich daß das stufenweise abschwächen der
doppellautigen endungen, ihre vermischung mit den kur-
zen, endlich ihre gänzliche abwerfung oder verstümme-
lung auf ein dem neuen sprachstandpunct entgegengesetztes
princip sinnlich höherer vollendung hinweise, wie es
uns andere in jenen stücken auffallend einstimmende
sprachen der vorwelt mehr und minder wirklich zei-
gen. Gebührte jenen endungen mit doppellaut eine ge-
wiß merkliche länge, so muß sich neben ihr in den sil-
ben dag, vig, wenn sie gleich betont wurden, eine
deutliche kürze offenbart haben. Ohne dies würde ein
ganz unglaubliches übergewicht schleppender längen in
der sprache gewesen seyn. Vergleicht man nun lateini-
sche formen *) dazu: mensas, passeres, modos; so ergibt
sich schon entschiedene analogie, die aber noch steigt,
wenn in beiden sprachen wurzeln mit formen übereintref-
fen, z. b. in habere und alth. haben, peto und goth. bidja,

*) Ich gebe auch den lat. langen vocalen das dehnzeichen, die
andern ungedehnten sind dann kurze.

I. von den buchſtaben insgemein.
rückſicht. Dieſe geſetze an ſich ſelbſt ſind gleichwohl ſo
einfach und in der natur menſchlicher ſprache ſo ſehr be-
gründet, daß eine hiſtoriſche unterſuchung der deutſchen
nothwendig auf die frage führen muß. ob nicht wenig-
ſtens in verfloßenen zeiten proſodiſche grundſätze merk-
lich vorgewaltet haben und aus welchen ſpuren das noch
zu erkennen ſeyn wird? Sind doch die neugriechiſ he
und romaniſche ſprache der alten griechiſchen und la-
teiniſchen quantität verluſtig geworden; warum ſollte
die analogie dieſer fortbildung oder verbildung nicht
auch für die deutſche geltend gemacht werden dürfen?
geht hier der ſprachgeiſt keinen natürlichen gang? Ich
glaube daß etwa folgende puncte anzuſchlagen wären:

1) die gedehnten und diphthongiſchen laute in den al-
ten flexions- und bildungsendungen weiſen darauf, daß
die heutige betonung ganz derſelben wörter u. formen
ihren ehmahligen zuſtand nicht ausreichend erkläre, ge-
ſchweige ſinnlich erſchöpfe. Man halte unſer: tage
(dies), wege (vias), hat (habet), bitte (peto) zu dem
goth. dagôs, vigôs, habáiþ, bidja oder dem alth. tagâ,
wëgâ, habêt, pittu; weiter: ſteine (lapides) ſalbes (un-
gis) zu ſtainôs, ſalbôs; niemand zweifelt wohl, daß die
heutzutage gleichtonigen ſilben tag, weg, ſtein, ſalb vor
alters nicht auf einer reihe geſtanden haben können, es
iſt ſehr glaublich daß das ſtufenweiſe abſchwächen der
doppellautigen endungen, ihre vermiſchung mit den kur-
zen, endlich ihre gänzliche abwerfung oder verſtümme-
lung auf ein dem neuen ſprachſtandpunct entgegengeſetztes
princip ſinnlich höherer vollendung hinweiſe, wie es
uns andere in jenen ſtücken auffallend einſtimmende
ſprachen der vorwelt mehr und minder wirklich zei-
gen. Gebührte jenen endungen mit doppellaut eine ge-
wiß merkliche länge, ſo muß ſich neben ihr in den ſil-
ben dag, vig, wenn ſie gleich betont wurden, eine
deutliche kürze offenbart haben. Ohne dies würde ein
ganz unglaubliches übergewicht ſchleppender längen in
der ſprache geweſen ſeyn. Vergleicht man nun lateini-
ſche formen *) dazu: menſâs, paſſerês, modôs; ſo ergibt
ſich ſchon entſchiedene analogie, die aber noch ſteigt,
wenn in beiden ſprachen wurzeln mit formen übereintref-
fen, z. b. in habêre und alth. habên, peto und goth. bidja,

*) Ich gebe auch den lat. langen vocalen das dehnzeichen, die
andern ungedehnten ſind dann kurze.
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[13/0039] I. von den buchſtaben insgemein. rückſicht. Dieſe geſetze an ſich ſelbſt ſind gleichwohl ſo einfach und in der natur menſchlicher ſprache ſo ſehr be- gründet, daß eine hiſtoriſche unterſuchung der deutſchen nothwendig auf die frage führen muß. ob nicht wenig- ſtens in verfloßenen zeiten proſodiſche grundſätze merk- lich vorgewaltet haben und aus welchen ſpuren das noch zu erkennen ſeyn wird? Sind doch die neugriechiſ he und romaniſche ſprache der alten griechiſchen und la- teiniſchen quantität verluſtig geworden; warum ſollte die analogie dieſer fortbildung oder verbildung nicht auch für die deutſche geltend gemacht werden dürfen? geht hier der ſprachgeiſt keinen natürlichen gang? Ich glaube daß etwa folgende puncte anzuſchlagen wären: 1) die gedehnten und diphthongiſchen laute in den al- ten flexions- und bildungsendungen weiſen darauf, daß die heutige betonung ganz derſelben wörter u. formen ihren ehmahligen zuſtand nicht ausreichend erkläre, ge- ſchweige ſinnlich erſchöpfe. Man halte unſer: tage (dies), wege (vias), hat (habet), bitte (peto) zu dem goth. dagôs, vigôs, habáiþ, bidja oder dem alth. tagâ, wëgâ, habêt, pittu; weiter: ſteine (lapides) ſalbes (un- gis) zu ſtainôs, ſalbôs; niemand zweifelt wohl, daß die heutzutage gleichtonigen ſilben tag, weg, ſtein, ſalb vor alters nicht auf einer reihe geſtanden haben können, es iſt ſehr glaublich daß das ſtufenweiſe abſchwächen der doppellautigen endungen, ihre vermiſchung mit den kur- zen, endlich ihre gänzliche abwerfung oder verſtümme- lung auf ein dem neuen ſprachſtandpunct entgegengeſetztes princip ſinnlich höherer vollendung hinweiſe, wie es uns andere in jenen ſtücken auffallend einſtimmende ſprachen der vorwelt mehr und minder wirklich zei- gen. Gebührte jenen endungen mit doppellaut eine ge- wiß merkliche länge, ſo muß ſich neben ihr in den ſil- ben dag, vig, wenn ſie gleich betont wurden, eine deutliche kürze offenbart haben. Ohne dies würde ein ganz unglaubliches übergewicht ſchleppender längen in der ſprache geweſen ſeyn. Vergleicht man nun lateini- ſche formen *) dazu: menſâs, paſſerês, modôs; ſo ergibt ſich ſchon entſchiedene analogie, die aber noch ſteigt, wenn in beiden ſprachen wurzeln mit formen übereintref- fen, z. b. in habêre und alth. habên, peto und goth. bidja, *) Ich gebe auch den lat. langen vocalen das dehnzeichen, die andern ungedehnten ſind dann kurze.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/39>, abgerufen am 27.04.2024.