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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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Vorrede.
gestolen worden seyn. Vielleicht läßt sie oder das ori-
ginal sich noch irgendwo in England oder Holland auf-
spüren. -- Zu München mögen manche einzelne bruch-
stücke und glossen althochd. mundart liegen, zu S. Gal-
len liegen die wichtigen sogenannt keronischen glossen,
vielleicht aus dem siebenten jahrhundert, gewis von Ke-
ro's, des übersetzers der benedictin. regel, sprache ab-
weichend; sie wird Füglistaller, einer der gründlichsten
kenner unserer sprache, demnächst mit den gesammten
schriften Notkers drucken laßen. Die altsächsische Evan-
gelienharmonie, deren herausgabe schon vor drei jahren
endlich kein hindernis im wege stehen sollte, ist immer
noch nicht erschienen; Hr. Bibliothecar Scherer war so
gefällig, mir auf mein ansuchen einige bruchstücke der mehr-
fach genommenen abschriften zu senden, aus denen sich
meine bekanntschaft mit dieser mundart einigermaßen er-
weitert hat. Von den mailändischen entdeckungen ist außer
und seit dem majischen specimen nichts heraus. Wenn nun
schon einzelne blätter des wiederaufstehenden Ulphilas
manche dunkelheit zerstreuen, die vorher unsern blick
hemmte, der ganze vorrath aber massen von licht verbrei-
ten muß, wenn durch vollständige bekanntmachung der
werke Notkers erst eigentliche sicherheit und anschauliche
fülle der beispiele für viele regeln der alth. grammatik ent-
springen und das studium der altsächsischen sprache bald
einen festeren halt gewonnen haben wird; so tröstet mich
der gedanke an die bevorstehenden aufschlüße, wodurch
diesem feld eine theilweise oder gänzliche umarbeitung
bereitet werden kann, über vermeidlich gewesene män-
gel meiner jetzigen arbeit.

Mit solchen nothwendigen oder verschuldeten in-
neren unvollkommenheiten verträgt sich auch das,
was an dem äußeren meines buchs misfallen wird.
Ein stolzes kleid geziemt der deutschen grammatik noch
nicht. Die verlagshandlung hat, nach mislungenem ver-
such, unvorhandene typen gießen zu laßen, um nicht
länger aufzuhalten, zu einzelnen holzstöcken greifen
müßen, welche unsauber ins auge fallen, für einige
buchstaben gar nicht einmahl gebraucht werden konn-
ten; diesen übelstand aber reichlich vergolten durch ver-
stattung jeder bequemlichkeit, durch zulaßung mehrerer
bogen über die verabredete zahl und durch verwendung
eines tüchtigen setzers, ohne welchen das werk nicht
so correct ausgefallen wäre. Die etwas schwankende
neuhochdeutsche orthographie fällt größtentheils mir zur

b

Vorrede.
geſtolen worden ſeyn. Vielleicht läßt ſie oder das ori-
ginal ſich noch irgendwo in England oder Holland auf-
ſpüren. — Zu München mögen manche einzelne bruch-
ſtücke und gloſſen althochd. mundart liegen, zu S. Gal-
len liegen die wichtigen ſogenannt keroniſchen gloſſen,
vielleicht aus dem ſiebenten jahrhundert, gewis von Ke-
ro’s, des überſetzers der benedictin. regel, ſprache ab-
weichend; ſie wird Fügliſtaller, einer der gründlichſten
kenner unſerer ſprache, demnächſt mit den geſammten
ſchriften Notkers drucken laßen. Die altſächſiſche Evan-
gelienharmonie, deren herausgabe ſchon vor drei jahren
endlich kein hindernis im wege ſtehen ſollte, iſt immer
noch nicht erſchienen; Hr. Bibliothecar Scherer war ſo
gefällig, mir auf mein anſuchen einige bruchſtücke der mehr-
fach genommenen abſchriften zu ſenden, aus denen ſich
meine bekanntſchaft mit dieſer mundart einigermaßen er-
weitert hat. Von den mailändiſchen entdeckungen iſt außer
und ſeit dem majiſchen ſpecimen nichts heraus. Wenn nun
ſchon einzelne blätter des wiederaufſtehenden Ulphilas
manche dunkelheit zerſtreuen, die vorher unſern blick
hemmte, der ganze vorrath aber maſſen von licht verbrei-
ten muß, wenn durch vollſtändige bekanntmachung der
werke Notkers erſt eigentliche ſicherheit und anſchauliche
fülle der beiſpiele für viele regeln der alth. grammatik ent-
ſpringen und das ſtudium der altſächſiſchen ſprache bald
einen feſteren halt gewonnen haben wird; ſo tröſtet mich
der gedanke an die bevorſtehenden aufſchlüße, wodurch
dieſem feld eine theilweiſe oder gänzliche umarbeitung
bereitet werden kann, über vermeidlich geweſene män-
gel meiner jetzigen arbeit.

Mit ſolchen nothwendigen oder verſchuldeten in-
neren unvollkommenheiten verträgt ſich auch das,
was an dem äußeren meines buchs misfallen wird.
Ein ſtolzes kleid geziemt der deutſchen grammatik noch
nicht. Die verlagshandlung hat, nach mislungenem ver-
ſuch, unvorhandene typen gießen zu laßen, um nicht
länger aufzuhalten, zu einzelnen holzſtöcken greifen
müßen, welche unſauber ins auge fallen, für einige
buchſtaben gar nicht einmahl gebraucht werden konn-
ten; dieſen übelſtand aber reichlich vergolten durch ver-
ſtattung jeder bequemlichkeit, durch zulaßung mehrerer
bogen über die verabredete zahl und durch verwendung
eines tüchtigen ſetzers, ohne welchen das werk nicht
ſo correct ausgefallen wäre. Die etwas ſchwankende
neuhochdeutſche orthographie fällt größtentheils mir zur

b
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[XVII/0023] Vorrede. geſtolen worden ſeyn. Vielleicht läßt ſie oder das ori- ginal ſich noch irgendwo in England oder Holland auf- ſpüren. — Zu München mögen manche einzelne bruch- ſtücke und gloſſen althochd. mundart liegen, zu S. Gal- len liegen die wichtigen ſogenannt keroniſchen gloſſen, vielleicht aus dem ſiebenten jahrhundert, gewis von Ke- ro’s, des überſetzers der benedictin. regel, ſprache ab- weichend; ſie wird Fügliſtaller, einer der gründlichſten kenner unſerer ſprache, demnächſt mit den geſammten ſchriften Notkers drucken laßen. Die altſächſiſche Evan- gelienharmonie, deren herausgabe ſchon vor drei jahren endlich kein hindernis im wege ſtehen ſollte, iſt immer noch nicht erſchienen; Hr. Bibliothecar Scherer war ſo gefällig, mir auf mein anſuchen einige bruchſtücke der mehr- fach genommenen abſchriften zu ſenden, aus denen ſich meine bekanntſchaft mit dieſer mundart einigermaßen er- weitert hat. Von den mailändiſchen entdeckungen iſt außer und ſeit dem majiſchen ſpecimen nichts heraus. Wenn nun ſchon einzelne blätter des wiederaufſtehenden Ulphilas manche dunkelheit zerſtreuen, die vorher unſern blick hemmte, der ganze vorrath aber maſſen von licht verbrei- ten muß, wenn durch vollſtändige bekanntmachung der werke Notkers erſt eigentliche ſicherheit und anſchauliche fülle der beiſpiele für viele regeln der alth. grammatik ent- ſpringen und das ſtudium der altſächſiſchen ſprache bald einen feſteren halt gewonnen haben wird; ſo tröſtet mich der gedanke an die bevorſtehenden aufſchlüße, wodurch dieſem feld eine theilweiſe oder gänzliche umarbeitung bereitet werden kann, über vermeidlich geweſene män- gel meiner jetzigen arbeit. Mit ſolchen nothwendigen oder verſchuldeten in- neren unvollkommenheiten verträgt ſich auch das, was an dem äußeren meines buchs misfallen wird. Ein ſtolzes kleid geziemt der deutſchen grammatik noch nicht. Die verlagshandlung hat, nach mislungenem ver- ſuch, unvorhandene typen gießen zu laßen, um nicht länger aufzuhalten, zu einzelnen holzſtöcken greifen müßen, welche unſauber ins auge fallen, für einige buchſtaben gar nicht einmahl gebraucht werden konn- ten; dieſen übelſtand aber reichlich vergolten durch ver- ſtattung jeder bequemlichkeit, durch zulaßung mehrerer bogen über die verabredete zahl und durch verwendung eines tüchtigen ſetzers, ohne welchen das werk nicht ſo correct ausgefallen wäre. Die etwas ſchwankende neuhochdeutſche orthographie fällt größtentheils mir zur b

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. XVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/23>, abgerufen am 28.04.2024.