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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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II. allgemeine vergleichung der conjugation.
neuh., 170 neuniederl., 80 engl., 120 schwed., 110
dänische; manches wird sich aber ergänzen und berich-
tigen laßen. Vollständig und sicher überschauen wir
bloß das feld der heutigen sprachen, von den älteren
am genausten die. welche den meisten quellenvorrath
darbieten, folglich die mittelhochd., altn. und angels.,
ungenauer ist unsere kenntnis des alth., noch weit
beschränkter die des goth. Bei vergleichung des goth.
mit dem neuh. zähle ich etwa 74 starke verba, welche
jenes mit diesem gemein hat; folglich läßt der heutige
bestand von 160 auf ungefähr 280 als damahliges ei-
genthum der goth. mundart schließen. Kämen die
goth. denkmähler den mittelh. gleich, so zweifle ich
nicht, würde die zahl der goth. starken verba über
300 gehen, davon wir also noch nicht die hälfte ken-
nen. Daß alle mundarten sämmtliche wurzeln oder
von sämmtlichen starke form beseßen hätten, ist gar
nicht anzunehmen, wohl aber progressivischer unter-
gang theils der wurzeln, theils der starken form. Un-
sere hochd. sprache hat jetzt über die hälste der star-
ken verba, die sie im 9ten jahrh., weit über ein drit-
tel derer, die sie noch im 13ten handhabte, verloren.
2) für erkenntnis und scheidung der dialecte wird das
verzeichnis lehrreich, sein vortheil aber spränge mehr
in die augen, wenn ich auf dreifachem raume hätte
tabellarisch ordnen können. Man würde dann über-
blicken, welche verba durch alle mundarten ziehen
(z. b. 274. 278. 282 etc.) welche durch die meisten und
bei welchen sich goth. hochd. sächs. und nord. dia-
lect scheidet (auffallend beschränkt ist z. b. im nord.
die reihe ik, 295-303, im engl. die reihe iuk, iug
256-268 etc.). Dieses auszuführen gehört nicht in
die flexionslehre, einige beispiele: der goth. hochd.
und sächs. stamm braucht für den begriff frangere 295,
der nord. 230; jene für dormire 48., der nord. 276,
obgleich der angels. auch breotan und svefan, der
hochd. die verwandten brößeln (ein alth. priußu, proß
voraussetzend) und ensweben kennt. Unnordisch sind
z. b. 248. 263. 306. 315. 345. 353. 437 etc.; eigenthüm-
lich nordisch z. b. 259. 260. 340. 448 etc. Manchmahl
folgt dasselbe verbum verschiedner conjugation und
hier möchten noch einige getrennt aufgestellte zus.
fallen, z. b. 330 mit 430. vornämlich wenn gewisse
cons. dabei unwesentlich scheinen, 148 mit 149 (vleite,
gleiße), 312 mit 253 (fnyser, vnihu vgl. oben s. 318.
II. allgemeine vergleichung der conjugation.
neuh., 170 neuniederl., 80 engl., 120 ſchwed., 110
däniſche; manches wird ſich aber ergänzen und berich-
tigen laßen. Vollſtändig und ſicher überſchauen wir
bloß das feld der heutigen ſprachen, von den älteren
am genauſten die. welche den meiſten quellenvorrath
darbieten, folglich die mittelhochd., altn. und angelſ.,
ungenauer iſt unſere kenntnis des alth., noch weit
beſchränkter die des goth. Bei vergleichung des goth.
mit dem neuh. zähle ich etwa 74 ſtarke verba, welche
jenes mit dieſem gemein hat; folglich läßt der heutige
beſtand von 160 auf ungefähr 280 als damahliges ei-
genthum der goth. mundart ſchließen. Kämen die
goth. denkmähler den mittelh. gleich, ſo zweifle ich
nicht, würde die zahl der goth. ſtarken verba über
300 gehen, davon wir alſo noch nicht die hälfte ken-
nen. Daß alle mundarten ſämmtliche wurzeln oder
von ſämmtlichen ſtarke form beſeßen hätten, iſt gar
nicht anzunehmen, wohl aber progreſſiviſcher unter-
gang theils der wurzeln, theils der ſtarken form. Un-
ſere hochd. ſprache hat jetzt über die hälſte der ſtar-
ken verba, die ſie im 9ten jahrh., weit über ein drit-
tel derer, die ſie noch im 13ten handhabte, verloren.
2) für erkenntnis und ſcheidung der dialecte wird das
verzeichnis lehrreich, ſein vortheil aber ſpränge mehr
in die augen, wenn ich auf dreifachem raume hätte
tabellariſch ordnen können. Man würde dann über-
blicken, welche verba durch alle mundarten ziehen
(z. b. 274. 278. 282 etc.) welche durch die meiſten und
bei welchen ſich goth. hochd. ſächſ. und nord. dia-
lect ſcheidet (auffallend beſchränkt iſt z. b. im nord.
die reihe ik, 295-303, im engl. die reihe iuk, iug
256-268 etc.). Dieſes auszuführen gehört nicht in
die flexionslehre, einige beiſpiele: der goth. hochd.
und ſächſ. ſtamm braucht für den begriff frangere 295,
der nord. 230; jene für dormire 48., der nord. 276,
obgleich der angelſ. auch brëótan und ſvëfan, der
hochd. die verwandten brößeln (ein alth. priuƷu, prôƷ
vorausſetzend) und enſweben kennt. Unnordiſch ſind
z. b. 248. 263. 306. 315. 345. 353. 437 etc.; eigenthüm-
lich nordiſch z. b. 259. 260. 340. 448 etc. Manchmahl
folgt daſſelbe verbum verſchiedner conjugation und
hier möchten noch einige getrennt aufgeſtellte zuſ.
fallen, z. b. 330 mit 430. vornämlich wenn gewiſſe
conſ. dabei unweſentlich ſcheinen, 148 mit 149 (vlîte,
glîƷe), 312 mit 253 (fnŷſer, vnihu vgl. oben ſ. 318.
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[1031/1057] II. allgemeine vergleichung der conjugation. neuh., 170 neuniederl., 80 engl., 120 ſchwed., 110 däniſche; manches wird ſich aber ergänzen und berich- tigen laßen. Vollſtändig und ſicher überſchauen wir bloß das feld der heutigen ſprachen, von den älteren am genauſten die. welche den meiſten quellenvorrath darbieten, folglich die mittelhochd., altn. und angelſ., ungenauer iſt unſere kenntnis des alth., noch weit beſchränkter die des goth. Bei vergleichung des goth. mit dem neuh. zähle ich etwa 74 ſtarke verba, welche jenes mit dieſem gemein hat; folglich läßt der heutige beſtand von 160 auf ungefähr 280 als damahliges ei- genthum der goth. mundart ſchließen. Kämen die goth. denkmähler den mittelh. gleich, ſo zweifle ich nicht, würde die zahl der goth. ſtarken verba über 300 gehen, davon wir alſo noch nicht die hälfte ken- nen. Daß alle mundarten ſämmtliche wurzeln oder von ſämmtlichen ſtarke form beſeßen hätten, iſt gar nicht anzunehmen, wohl aber progreſſiviſcher unter- gang theils der wurzeln, theils der ſtarken form. Un- ſere hochd. ſprache hat jetzt über die hälſte der ſtar- ken verba, die ſie im 9ten jahrh., weit über ein drit- tel derer, die ſie noch im 13ten handhabte, verloren. 2) für erkenntnis und ſcheidung der dialecte wird das verzeichnis lehrreich, ſein vortheil aber ſpränge mehr in die augen, wenn ich auf dreifachem raume hätte tabellariſch ordnen können. Man würde dann über- blicken, welche verba durch alle mundarten ziehen (z. b. 274. 278. 282 etc.) welche durch die meiſten und bei welchen ſich goth. hochd. ſächſ. und nord. dia- lect ſcheidet (auffallend beſchränkt iſt z. b. im nord. die reihe ik, 295-303, im engl. die reihe iuk, iug 256-268 etc.). Dieſes auszuführen gehört nicht in die flexionslehre, einige beiſpiele: der goth. hochd. und ſächſ. ſtamm braucht für den begriff frangere 295, der nord. 230; jene für dormire 48., der nord. 276, obgleich der angelſ. auch brëótan und ſvëfan, der hochd. die verwandten brößeln (ein alth. priuƷu, prôƷ vorausſetzend) und enſweben kennt. Unnordiſch ſind z. b. 248. 263. 306. 315. 345. 353. 437 etc.; eigenthüm- lich nordiſch z. b. 259. 260. 340. 448 etc. Manchmahl folgt daſſelbe verbum verſchiedner conjugation und hier möchten noch einige getrennt aufgeſtellte zuſ. fallen, z. b. 330 mit 430. vornämlich wenn gewiſſe conſ. dabei unweſentlich ſcheinen, 148 mit 149 (vlîte, glîƷe), 312 mit 253 (fnŷſer, vnihu vgl. oben ſ. 318.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 1031. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/1057>, abgerufen am 18.05.2024.