Zweites Capitel. Die Verwirrtheit oder allgemeine Verrücktheit (Demence.)
§. 125.
Unter den psychischen Schwächezuständen ohne das auffallende Herrschen eines Einzel-Wahns begreifen wir -- im Gegensatz zum apathischen Blödsinn -- diejenigen unter der Benennung der Ver- wirrtheit, wo die Kranken noch einige äussere Lebendigkeit und Be- weglichkeit sowohl in Rede als Benehmen zeigen, welche dann eben auch auf einige noch vorhandene Mannigfaltigkeit und Activität des Vorstellens und Strebens hinweist. Auch hier gibt es unendliche Verschiedenheiten in der Aeusserungsweise der psychischen Schwäche; noch am meisten Characteristisches haben die zahlreichen Fälle, welche in ihrem äusseren Verhalten noch eine sichtbare Aehnlichkeit mit der Manie darbieten. Diese Aehnlichkeit kann freilich immer nur eine äussere und oberflächliche sein.
Denn in allen diesen Fällen besteht die Grundstörung in einer allgemeinen Schwäche der psychischen Thätigkeiten. Von Seiten des Gemüths äussert sich diese in der zunehmenden Unfähigkeit der Kranken zu jedem tieferen Affect mit unregelmässigem Wechsel ganz oberflächlicher Gemüthsbewegungen oder anhaltender völliger Gleich- gültigkeit. Hass und wirkliche Liebe sind gleich unmöglich bei diesen Kranken; Entbehrungen kennen sie kaum oder gar nicht und über angenehme Ereignisse können sie sich kaum oder gar nicht mehr freuen. Kommt auch zuweilen eine augenblickliche, turbulente Auf- wallung vor, so ist sie doch weder von starken Vorstellungen noch von einem energischen Gefühls- oder Willensacte getragen, die Gleich- gültigkeit kehrt schnell zurück, und diese Gleichgültigkeit ist es auch, welche die Gefühlsreactionen auf die Aussenwelt qualitativ abnorm erscheinen lässt (Fortlachen, Fortspielen auch bei den traurigsten Anlässen etc.). Verschiedenheiten in der herrschenden Grundstimmung kommen immerhin vor. Einige dieser Kranken äussern anhaltend eine heitere Stimmung, Lachen, Tanzen, Singen und zeigen in Geberden und Rede Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und dreiste Zuversicht (Moria S. p. 235). Andere zeigen ein ängstliches Wesen, weinen viel und bieten die Mimik der Trauer und Besorgniss dar. Noch Andere zeigen eine Neigung zu boshaften Streichen, zu Schadenfreude etc. Aber diese Stimmungen sind weder äusserlich (wie beim Gesunden) noch inner- lich (wie beim Maniacus und Melancholischen) psychisch motivirt,
18 *
Zweites Capitel. Die Verwirrtheit oder allgemeine Verrücktheit (Démence.)
§. 125.
Unter den psychischen Schwächezuständen ohne das auffallende Herrschen eines Einzel-Wahns begreifen wir — im Gegensatz zum apathischen Blödsinn — diejenigen unter der Benennung der Ver- wirrtheit, wo die Kranken noch einige äussere Lebendigkeit und Be- weglichkeit sowohl in Rede als Benehmen zeigen, welche dann eben auch auf einige noch vorhandene Mannigfaltigkeit und Activität des Vorstellens und Strebens hinweist. Auch hier gibt es unendliche Verschiedenheiten in der Aeusserungsweise der psychischen Schwäche; noch am meisten Characteristisches haben die zahlreichen Fälle, welche in ihrem äusseren Verhalten noch eine sichtbare Aehnlichkeit mit der Manie darbieten. Diese Aehnlichkeit kann freilich immer nur eine äussere und oberflächliche sein.
Denn in allen diesen Fällen besteht die Grundstörung in einer allgemeinen Schwäche der psychischen Thätigkeiten. Von Seiten des Gemüths äussert sich diese in der zunehmenden Unfähigkeit der Kranken zu jedem tieferen Affect mit unregelmässigem Wechsel ganz oberflächlicher Gemüthsbewegungen oder anhaltender völliger Gleich- gültigkeit. Hass und wirkliche Liebe sind gleich unmöglich bei diesen Kranken; Entbehrungen kennen sie kaum oder gar nicht und über angenehme Ereignisse können sie sich kaum oder gar nicht mehr freuen. Kommt auch zuweilen eine augenblickliche, turbulente Auf- wallung vor, so ist sie doch weder von starken Vorstellungen noch von einem energischen Gefühls- oder Willensacte getragen, die Gleich- gültigkeit kehrt schnell zurück, und diese Gleichgültigkeit ist es auch, welche die Gefühlsreactionen auf die Aussenwelt qualitativ abnorm erscheinen lässt (Fortlachen, Fortspielen auch bei den traurigsten Anlässen etc.). Verschiedenheiten in der herrschenden Grundstimmung kommen immerhin vor. Einige dieser Kranken äussern anhaltend eine heitere Stimmung, Lachen, Tanzen, Singen und zeigen in Geberden und Rede Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und dreiste Zuversicht (Moria S. p. 235). Andere zeigen ein ängstliches Wesen, weinen viel und bieten die Mimik der Trauer und Besorgniss dar. Noch Andere zeigen eine Neigung zu boshaften Streichen, zu Schadenfreude etc. Aber diese Stimmungen sind weder äusserlich (wie beim Gesunden) noch inner- lich (wie beim Maniacus und Melancholischen) psychisch motivirt,
18 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0289"n="275"/><divn="3"><head><hirendition="#b">Zweites Capitel.</hi><lb/><hirendition="#i">Die Verwirrtheit oder allgemeine Verrücktheit</hi> (<hirendition="#i">Démence</hi>.)</head><lb/><divn="4"><head>§. 125.</head><lb/><p>Unter den psychischen Schwächezuständen ohne das auffallende<lb/>
Herrschen eines Einzel-Wahns begreifen wir — im Gegensatz zum<lb/>
apathischen Blödsinn — diejenigen unter der Benennung der Ver-<lb/>
wirrtheit, wo die Kranken noch einige äussere Lebendigkeit und Be-<lb/>
weglichkeit sowohl in Rede als Benehmen zeigen, welche dann eben<lb/>
auch auf einige noch vorhandene Mannigfaltigkeit und Activität des<lb/>
Vorstellens und Strebens hinweist. Auch hier gibt es unendliche<lb/>
Verschiedenheiten in der Aeusserungsweise der psychischen Schwäche;<lb/>
noch am meisten Characteristisches haben die zahlreichen Fälle, welche<lb/>
in ihrem äusseren Verhalten noch eine sichtbare Aehnlichkeit mit der<lb/>
Manie darbieten. Diese Aehnlichkeit kann freilich immer nur eine<lb/>
äussere und oberflächliche sein.</p><lb/><p>Denn in allen diesen Fällen besteht die Grundstörung in einer<lb/>
allgemeinen Schwäche der psychischen Thätigkeiten. Von Seiten des<lb/>
Gemüths äussert sich diese in der zunehmenden Unfähigkeit der<lb/>
Kranken zu jedem tieferen Affect mit unregelmässigem Wechsel ganz<lb/>
oberflächlicher Gemüthsbewegungen oder anhaltender völliger Gleich-<lb/>
gültigkeit. Hass und wirkliche Liebe sind gleich unmöglich bei diesen<lb/>
Kranken; Entbehrungen kennen sie kaum oder gar nicht und über<lb/>
angenehme Ereignisse können sie sich kaum oder gar nicht mehr<lb/>
freuen. Kommt auch zuweilen eine augenblickliche, turbulente Auf-<lb/>
wallung vor, so ist sie doch weder von starken Vorstellungen noch<lb/>
von einem energischen Gefühls- oder Willensacte getragen, die Gleich-<lb/>
gültigkeit kehrt schnell zurück, und diese Gleichgültigkeit ist es auch,<lb/>
welche die Gefühlsreactionen auf die Aussenwelt qualitativ abnorm<lb/>
erscheinen lässt (Fortlachen, Fortspielen auch bei den traurigsten<lb/>
Anlässen etc.). Verschiedenheiten in der herrschenden Grundstimmung<lb/>
kommen immerhin vor. Einige dieser Kranken äussern anhaltend eine<lb/>
heitere Stimmung, Lachen, Tanzen, Singen und zeigen in Geberden und<lb/>
Rede Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und dreiste Zuversicht (Moria S. p. 235).<lb/>
Andere zeigen ein ängstliches Wesen, weinen viel und bieten die<lb/>
Mimik der Trauer und Besorgniss dar. Noch Andere zeigen eine<lb/>
Neigung zu boshaften Streichen, zu Schadenfreude etc. Aber diese<lb/>
Stimmungen sind weder äusserlich (wie beim Gesunden) noch inner-<lb/>
lich (wie beim Maniacus und Melancholischen) psychisch motivirt,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">18 *</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[275/0289]
Zweites Capitel.
Die Verwirrtheit oder allgemeine Verrücktheit (Démence.)
§. 125.
Unter den psychischen Schwächezuständen ohne das auffallende
Herrschen eines Einzel-Wahns begreifen wir — im Gegensatz zum
apathischen Blödsinn — diejenigen unter der Benennung der Ver-
wirrtheit, wo die Kranken noch einige äussere Lebendigkeit und Be-
weglichkeit sowohl in Rede als Benehmen zeigen, welche dann eben
auch auf einige noch vorhandene Mannigfaltigkeit und Activität des
Vorstellens und Strebens hinweist. Auch hier gibt es unendliche
Verschiedenheiten in der Aeusserungsweise der psychischen Schwäche;
noch am meisten Characteristisches haben die zahlreichen Fälle, welche
in ihrem äusseren Verhalten noch eine sichtbare Aehnlichkeit mit der
Manie darbieten. Diese Aehnlichkeit kann freilich immer nur eine
äussere und oberflächliche sein.
Denn in allen diesen Fällen besteht die Grundstörung in einer
allgemeinen Schwäche der psychischen Thätigkeiten. Von Seiten des
Gemüths äussert sich diese in der zunehmenden Unfähigkeit der
Kranken zu jedem tieferen Affect mit unregelmässigem Wechsel ganz
oberflächlicher Gemüthsbewegungen oder anhaltender völliger Gleich-
gültigkeit. Hass und wirkliche Liebe sind gleich unmöglich bei diesen
Kranken; Entbehrungen kennen sie kaum oder gar nicht und über
angenehme Ereignisse können sie sich kaum oder gar nicht mehr
freuen. Kommt auch zuweilen eine augenblickliche, turbulente Auf-
wallung vor, so ist sie doch weder von starken Vorstellungen noch
von einem energischen Gefühls- oder Willensacte getragen, die Gleich-
gültigkeit kehrt schnell zurück, und diese Gleichgültigkeit ist es auch,
welche die Gefühlsreactionen auf die Aussenwelt qualitativ abnorm
erscheinen lässt (Fortlachen, Fortspielen auch bei den traurigsten
Anlässen etc.). Verschiedenheiten in der herrschenden Grundstimmung
kommen immerhin vor. Einige dieser Kranken äussern anhaltend eine
heitere Stimmung, Lachen, Tanzen, Singen und zeigen in Geberden und
Rede Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und dreiste Zuversicht (Moria S. p. 235).
Andere zeigen ein ängstliches Wesen, weinen viel und bieten die
Mimik der Trauer und Besorgniss dar. Noch Andere zeigen eine
Neigung zu boshaften Streichen, zu Schadenfreude etc. Aber diese
Stimmungen sind weder äusserlich (wie beim Gesunden) noch inner-
lich (wie beim Maniacus und Melancholischen) psychisch motivirt,
18 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/289>, abgerufen am 09.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.