Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite
Sinnes-Bewegungs-Anomalieen.

Die Bewegungen, das Aeussere und das Benehmen dieser
Kranken zeigt, auch in den mildesten Formen, immer eine gewisse
Verschrobenheit und Verzerrtheit. Die Physionomie erscheint meist
alt und verwittert, mit stumpferem oder von dem herrschenden Wahne
gefordertem Ausdruck. Die meisten zeigen besondere Bizarrerieen in
ihrem Benehmen; Einige gestikuliren beständig oder bewegen Hände
und Kopf in pedantischem Gleichmas, Andere stehen oft wie in Ver-
zückung stille, um Hallucinationen zu lauschen, Andere gehen unab-
lässig an einem bestimmten Lieblingsplatze auf und ab, wie Thiere
in einem Käfig, und sprechen oder brummen dabei Worte, Reime
oder Melodieen. Einige halten sich immer in den dunkelsten Räumen
auf, die sie finden können, wenden den Vorübergehenden sogleich
den Rücken zu und werden bei jeder Störung heftig. Andere be-
schäftigen sich anhaltend mit Sammeln von Bruchstücken aller Art,
Lumpen, Steinchen, Schnecken etc., denen sie einen hohen Werth
zuschreiben; noch Andere schmücken sich phantastisch mit allem,
was ihnen in die Hände kommt.

Gewöhnlich stellt sich mit dem Ablauf der melancholischen oder
maniacalischen Periode wieder eine Vermehrung des Körpervolums
und ein Zustand körperlichen Wohlbefindens ein, und jede Irren-
Pflege-Anstalt enthält solche Kranke, die schon viele Jahrzehende
in mittlerem Wohlsein fortleben und ein hohes Alter erreichen.

Intermissionen oder Remissionen kommen hier nicht mehr vor
und es scheint nach den bisherigen Erfahrungen niemals mehr eine
vollständige Heilung dieser Zustände möglich zu sein. Dagegen ist
es durch neuere Beobachtungen (Leuret) unzweifelhaft, dass eine
energische, methodische Behandlung Einzelne dieser Kranken so
zum Zurückhalten und zur Unterdrückung ihres Wahnes und zur
Ablegung bizarrer Gewohnheiten veranlassen kann, dass sie wieder
in höherem Masse zur Ausübung von Geschäften brauchbar werden
können. Ueberlässt man diese Kranken sich selbst, so befestigen
sie sich immer mehr in ihren Wahn-Vorstellungen, diese breiten
sich allmählig über immer weitere Kreise des Denkens aus, und die
Kranken verfallen endlich in Verwirrtheit oder apathischen Blödsinn.

XXXVII. Ein Verrückter und ein Wahnsinniger. Im Jahre
1824 befand sich seit etwa 8 Jahren in der Charite-Irrenanstalt zu Berlin ein
junger Mann, mehr Gegenstand der Aufsicht und Pflege, als ärztlicher Behand-
lung, der in den Gängen und Zimmern umherschritt, an Allem Theil zu nehmen
schien, aber eigentlich nichts beachtete, sondern Alles mit stolzem Hohn und
scheinbarer Zerstreutheit belächelte, über Alles, wenn er gefragt wurde, mit der
selbstgefälligsten Genügsamkeit und schroffer Zuversichtlichkeit absprach, weil

Sinnes-Bewegungs-Anomalieen.

Die Bewegungen, das Aeussere und das Benehmen dieser
Kranken zeigt, auch in den mildesten Formen, immer eine gewisse
Verschrobenheit und Verzerrtheit. Die Physionomie erscheint meist
alt und verwittert, mit stumpferem oder von dem herrschenden Wahne
gefordertem Ausdruck. Die meisten zeigen besondere Bizarrerieen in
ihrem Benehmen; Einige gestikuliren beständig oder bewegen Hände
und Kopf in pedantischem Gleichmas, Andere stehen oft wie in Ver-
zückung stille, um Hallucinationen zu lauschen, Andere gehen unab-
lässig an einem bestimmten Lieblingsplatze auf und ab, wie Thiere
in einem Käfig, und sprechen oder brummen dabei Worte, Reime
oder Melodieen. Einige halten sich immer in den dunkelsten Räumen
auf, die sie finden können, wenden den Vorübergehenden sogleich
den Rücken zu und werden bei jeder Störung heftig. Andere be-
schäftigen sich anhaltend mit Sammeln von Bruchstücken aller Art,
Lumpen, Steinchen, Schnecken etc., denen sie einen hohen Werth
zuschreiben; noch Andere schmücken sich phantastisch mit allem,
was ihnen in die Hände kommt.

Gewöhnlich stellt sich mit dem Ablauf der melancholischen oder
maniacalischen Periode wieder eine Vermehrung des Körpervolums
und ein Zustand körperlichen Wohlbefindens ein, und jede Irren-
Pflege-Anstalt enthält solche Kranke, die schon viele Jahrzehende
in mittlerem Wohlsein fortleben und ein hohes Alter erreichen.

Intermissionen oder Remissionen kommen hier nicht mehr vor
und es scheint nach den bisherigen Erfahrungen niemals mehr eine
vollständige Heilung dieser Zustände möglich zu sein. Dagegen ist
es durch neuere Beobachtungen (Leuret) unzweifelhaft, dass eine
energische, methodische Behandlung Einzelne dieser Kranken so
zum Zurückhalten und zur Unterdrückung ihres Wahnes und zur
Ablegung bizarrer Gewohnheiten veranlassen kann, dass sie wieder
in höherem Masse zur Ausübung von Geschäften brauchbar werden
können. Ueberlässt man diese Kranken sich selbst, so befestigen
sie sich immer mehr in ihren Wahn-Vorstellungen, diese breiten
sich allmählig über immer weitere Kreise des Denkens aus, und die
Kranken verfallen endlich in Verwirrtheit oder apathischen Blödsinn.

XXXVII. Ein Verrückter und ein Wahnsinniger. Im Jahre
1824 befand sich seit etwa 8 Jahren in der Charité-Irrenanstalt zu Berlin ein
junger Mann, mehr Gegenstand der Aufsicht und Pflege, als ärztlicher Behand-
lung, der in den Gängen und Zimmern umherschritt, an Allem Theil zu nehmen
schien, aber eigentlich nichts beachtete, sondern Alles mit stolzem Hohn und
scheinbarer Zerstreutheit belächelte, über Alles, wenn er gefragt wurde, mit der
selbstgefälligsten Genügsamkeit und schroffer Zuversichtlichkeit absprach, weil

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0279" n="265"/>
              <fw place="top" type="header">Sinnes-Bewegungs-Anomalieen.</fw><lb/>
              <p>Die <hi rendition="#g">Bewegungen</hi>, das Aeussere und das Benehmen dieser<lb/>
Kranken zeigt, auch in den mildesten Formen, immer eine gewisse<lb/>
Verschrobenheit und Verzerrtheit. Die Physionomie erscheint meist<lb/>
alt und verwittert, mit stumpferem oder von dem herrschenden Wahne<lb/>
gefordertem Ausdruck. Die meisten zeigen besondere Bizarrerieen in<lb/>
ihrem Benehmen; Einige gestikuliren beständig oder bewegen Hände<lb/>
und Kopf in pedantischem Gleichmas, Andere stehen oft wie in Ver-<lb/>
zückung stille, um Hallucinationen zu lauschen, Andere gehen unab-<lb/>
lässig an einem bestimmten Lieblingsplatze auf und ab, wie Thiere<lb/>
in einem Käfig, und sprechen oder brummen dabei Worte, Reime<lb/>
oder Melodieen. Einige halten sich immer in den dunkelsten Räumen<lb/>
auf, die sie finden können, wenden den Vorübergehenden sogleich<lb/>
den Rücken zu und werden bei jeder Störung heftig. Andere be-<lb/>
schäftigen sich anhaltend mit Sammeln von Bruchstücken aller Art,<lb/>
Lumpen, Steinchen, Schnecken etc., denen sie einen hohen Werth<lb/>
zuschreiben; noch Andere schmücken sich phantastisch mit allem,<lb/>
was ihnen in die Hände kommt.</p><lb/>
              <p>Gewöhnlich stellt sich mit dem Ablauf der melancholischen oder<lb/>
maniacalischen Periode wieder eine Vermehrung des Körpervolums<lb/>
und ein Zustand körperlichen Wohlbefindens ein, und jede Irren-<lb/>
Pflege-Anstalt enthält solche Kranke, die schon viele Jahrzehende<lb/>
in mittlerem Wohlsein fortleben und ein hohes Alter erreichen.</p><lb/>
              <p>Intermissionen oder Remissionen kommen hier nicht mehr vor<lb/>
und es scheint nach den bisherigen Erfahrungen niemals mehr eine<lb/>
vollständige Heilung dieser Zustände möglich zu sein. Dagegen ist<lb/>
es durch neuere Beobachtungen (Leuret) unzweifelhaft, dass eine<lb/>
energische, methodische Behandlung Einzelne dieser Kranken so<lb/>
zum Zurückhalten und zur Unterdrückung ihres Wahnes und zur<lb/>
Ablegung bizarrer Gewohnheiten veranlassen kann, dass sie wieder<lb/>
in höherem Masse zur Ausübung von Geschäften brauchbar werden<lb/>
können. Ueberlässt man diese Kranken sich selbst, so befestigen<lb/>
sie sich immer mehr in ihren Wahn-Vorstellungen, diese breiten<lb/>
sich allmählig über immer weitere Kreise des Denkens aus, und die<lb/>
Kranken verfallen endlich in Verwirrtheit oder apathischen Blödsinn.</p><lb/>
              <p>XXXVII. <hi rendition="#g">Ein Verrückter und ein Wahnsinniger</hi>. Im Jahre<lb/>
1824 befand sich seit etwa 8 Jahren in der Charité-Irrenanstalt zu Berlin ein<lb/>
junger Mann, mehr Gegenstand der Aufsicht und Pflege, als ärztlicher Behand-<lb/>
lung, der in den Gängen und Zimmern umherschritt, an Allem Theil zu nehmen<lb/>
schien, aber eigentlich nichts beachtete, sondern Alles mit stolzem Hohn und<lb/>
scheinbarer Zerstreutheit belächelte, über Alles, wenn er gefragt wurde, mit der<lb/>
selbstgefälligsten Genügsamkeit und schroffer Zuversichtlichkeit absprach, weil<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[265/0279] Sinnes-Bewegungs-Anomalieen. Die Bewegungen, das Aeussere und das Benehmen dieser Kranken zeigt, auch in den mildesten Formen, immer eine gewisse Verschrobenheit und Verzerrtheit. Die Physionomie erscheint meist alt und verwittert, mit stumpferem oder von dem herrschenden Wahne gefordertem Ausdruck. Die meisten zeigen besondere Bizarrerieen in ihrem Benehmen; Einige gestikuliren beständig oder bewegen Hände und Kopf in pedantischem Gleichmas, Andere stehen oft wie in Ver- zückung stille, um Hallucinationen zu lauschen, Andere gehen unab- lässig an einem bestimmten Lieblingsplatze auf und ab, wie Thiere in einem Käfig, und sprechen oder brummen dabei Worte, Reime oder Melodieen. Einige halten sich immer in den dunkelsten Räumen auf, die sie finden können, wenden den Vorübergehenden sogleich den Rücken zu und werden bei jeder Störung heftig. Andere be- schäftigen sich anhaltend mit Sammeln von Bruchstücken aller Art, Lumpen, Steinchen, Schnecken etc., denen sie einen hohen Werth zuschreiben; noch Andere schmücken sich phantastisch mit allem, was ihnen in die Hände kommt. Gewöhnlich stellt sich mit dem Ablauf der melancholischen oder maniacalischen Periode wieder eine Vermehrung des Körpervolums und ein Zustand körperlichen Wohlbefindens ein, und jede Irren- Pflege-Anstalt enthält solche Kranke, die schon viele Jahrzehende in mittlerem Wohlsein fortleben und ein hohes Alter erreichen. Intermissionen oder Remissionen kommen hier nicht mehr vor und es scheint nach den bisherigen Erfahrungen niemals mehr eine vollständige Heilung dieser Zustände möglich zu sein. Dagegen ist es durch neuere Beobachtungen (Leuret) unzweifelhaft, dass eine energische, methodische Behandlung Einzelne dieser Kranken so zum Zurückhalten und zur Unterdrückung ihres Wahnes und zur Ablegung bizarrer Gewohnheiten veranlassen kann, dass sie wieder in höherem Masse zur Ausübung von Geschäften brauchbar werden können. Ueberlässt man diese Kranken sich selbst, so befestigen sie sich immer mehr in ihren Wahn-Vorstellungen, diese breiten sich allmählig über immer weitere Kreise des Denkens aus, und die Kranken verfallen endlich in Verwirrtheit oder apathischen Blödsinn. XXXVII. Ein Verrückter und ein Wahnsinniger. Im Jahre 1824 befand sich seit etwa 8 Jahren in der Charité-Irrenanstalt zu Berlin ein junger Mann, mehr Gegenstand der Aufsicht und Pflege, als ärztlicher Behand- lung, der in den Gängen und Zimmern umherschritt, an Allem Theil zu nehmen schien, aber eigentlich nichts beachtete, sondern Alles mit stolzem Hohn und scheinbarer Zerstreutheit belächelte, über Alles, wenn er gefragt wurde, mit der selbstgefälligsten Genügsamkeit und schroffer Zuversichtlichkeit absprach, weil

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/279
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/279>, abgerufen am 09.05.2024.