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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Mildeste Form der Schwächezustände.
ist kaum oder gar nicht versehrt, ihre Reden sind ganz zusammen-
hängend und verständig. Dennoch sind sie nicht mehr die früheren
Menschen; es ist als ob von ihrer geistigen Individualität gerade das
Beste und Werthvollste abgestreift wäre, das feinere sittliche und
ästhetische Gefühl, das sie früher hatten, das Interesse für den
höheren geistigen Gehalt des Lebens, die Schönheit und der Adel
der menschlichen Natur. Ihr Denken und Streben bewegt sich von
nun an in einem beschränkten Kreis, und zwar in der Sphäre der
unmitelbaren Bedürfnisse und Sorgen des sinnlichen Daseins, und
während sie in diesem Kreise verständig, mit ziemlicher Lebhaftig-
keit, vielleicht mit mässigem Witze schalten, ist ihnen jeder geistige,
ideale Gehalt des Lebens und jede darauf zielende Betrachtung und
Bestrebung fremd geworden. Man könnte sie für ganz gesund halten,
-- da es ja Menschen genug gibt, die solcher Art von Hause aus
sind -- wenn man nicht ihr früheres Leben kennen, und wenn nicht
in manchen Fällen eine auffallende Umänderung der Physionomie
und des ganzen Habitus zum Stumpfen, Blöden, leise Thier-ähnlichen
auf eine durchgreifende Umwandlung hindeuten würde. Sie sind nun
ferner brauchbar zu einfachen, mechanischen Beschäftigungen, in
denen sie Sorgfalt und Verstand zeigen können, sie selbst verlangen
nichts weiter mehr, als das, was zur Befriedigung einfacher, sinn-
licher Bedürfnisse genügt. Lässt man solche Genesene aus dem
Irrenhause ins Leben zurückkehren, so sind sie in grosser Gefahr
neuen, schwereren Irreseins oder eines allmähligen Fortschritts der
geistigen Stumpfheit. In den Pflege-Anstalten führen sie oft viele
Jahre lang ein relativ gesundes, ruhiges und arbeitsames Leben.

Man hat solche Zustände als die allermildeste Form des Blöd-
sinns zu betrachten. In allen höheren Graden fällt natürlich jeder
Schein von Reconvalescenz weg und die zunehmende Abstumpfung
bleibt nicht auf die feineren und delicateren psychischen Gebiete
beschränkt. Häufig nimmt nun das ganze geistige Leben den Character
wieder an, den es in der Kindheit hatte, wobei am auffallendsten die
Fähigkeit zu allem abstracten Denken verloren gegangen, in manchen
Formen dagegen (namentlich der Verwirrtheit) eine gewisse ober-
flächliche und zusammenhangslose Lebendigkeit und Beweglichkeit
des Vorstellens zurückgeblieben ist. Der Mangel aller Tiefe -- weil
eben nur relativ wenige und beschränkte Massen von Vorstellungen
vorhanden sind, welche zu durchdringen wären -- die Freude an
Tand und Spielwerk, das zum Stoffe für ein oberflächliches Phanta-
siren wird, und das nackte, durch keine Reflexion gehinderte Hervortreten

Griesinger, psych. Krankhtn. 17

Mildeste Form der Schwächezustände.
ist kaum oder gar nicht versehrt, ihre Reden sind ganz zusammen-
hängend und verständig. Dennoch sind sie nicht mehr die früheren
Menschen; es ist als ob von ihrer geistigen Individualität gerade das
Beste und Werthvollste abgestreift wäre, das feinere sittliche und
ästhetische Gefühl, das sie früher hatten, das Interesse für den
höheren geistigen Gehalt des Lebens, die Schönheit und der Adel
der menschlichen Natur. Ihr Denken und Streben bewegt sich von
nun an in einem beschränkten Kreis, und zwar in der Sphäre der
unmitelbaren Bedürfnisse und Sorgen des sinnlichen Daseins, und
während sie in diesem Kreise verständig, mit ziemlicher Lebhaftig-
keit, vielleicht mit mässigem Witze schalten, ist ihnen jeder geistige,
ideale Gehalt des Lebens und jede darauf zielende Betrachtung und
Bestrebung fremd geworden. Man könnte sie für ganz gesund halten,
— da es ja Menschen genug gibt, die solcher Art von Hause aus
sind — wenn man nicht ihr früheres Leben kennen, und wenn nicht
in manchen Fällen eine auffallende Umänderung der Physionomie
und des ganzen Habitus zum Stumpfen, Blöden, leise Thier-ähnlichen
auf eine durchgreifende Umwandlung hindeuten würde. Sie sind nun
ferner brauchbar zu einfachen, mechanischen Beschäftigungen, in
denen sie Sorgfalt und Verstand zeigen können, sie selbst verlangen
nichts weiter mehr, als das, was zur Befriedigung einfacher, sinn-
licher Bedürfnisse genügt. Lässt man solche Genesene aus dem
Irrenhause ins Leben zurückkehren, so sind sie in grosser Gefahr
neuen, schwereren Irreseins oder eines allmähligen Fortschritts der
geistigen Stumpfheit. In den Pflege-Anstalten führen sie oft viele
Jahre lang ein relativ gesundes, ruhiges und arbeitsames Leben.

Man hat solche Zustände als die allermildeste Form des Blöd-
sinns zu betrachten. In allen höheren Graden fällt natürlich jeder
Schein von Reconvalescenz weg und die zunehmende Abstumpfung
bleibt nicht auf die feineren und delicateren psychischen Gebiete
beschränkt. Häufig nimmt nun das ganze geistige Leben den Character
wieder an, den es in der Kindheit hatte, wobei am auffallendsten die
Fähigkeit zu allem abstracten Denken verloren gegangen, in manchen
Formen dagegen (namentlich der Verwirrtheit) eine gewisse ober-
flächliche und zusammenhangslose Lebendigkeit und Beweglichkeit
des Vorstellens zurückgeblieben ist. Der Mangel aller Tiefe — weil
eben nur relativ wenige und beschränkte Massen von Vorstellungen
vorhanden sind, welche zu durchdringen wären — die Freude an
Tand und Spielwerk, das zum Stoffe für ein oberflächliches Phanta-
siren wird, und das nackte, durch keine Reflexion gehinderte Hervortreten

Griesinger, psych. Krankhtn. 17
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[257/0271] Mildeste Form der Schwächezustände. ist kaum oder gar nicht versehrt, ihre Reden sind ganz zusammen- hängend und verständig. Dennoch sind sie nicht mehr die früheren Menschen; es ist als ob von ihrer geistigen Individualität gerade das Beste und Werthvollste abgestreift wäre, das feinere sittliche und ästhetische Gefühl, das sie früher hatten, das Interesse für den höheren geistigen Gehalt des Lebens, die Schönheit und der Adel der menschlichen Natur. Ihr Denken und Streben bewegt sich von nun an in einem beschränkten Kreis, und zwar in der Sphäre der unmitelbaren Bedürfnisse und Sorgen des sinnlichen Daseins, und während sie in diesem Kreise verständig, mit ziemlicher Lebhaftig- keit, vielleicht mit mässigem Witze schalten, ist ihnen jeder geistige, ideale Gehalt des Lebens und jede darauf zielende Betrachtung und Bestrebung fremd geworden. Man könnte sie für ganz gesund halten, — da es ja Menschen genug gibt, die solcher Art von Hause aus sind — wenn man nicht ihr früheres Leben kennen, und wenn nicht in manchen Fällen eine auffallende Umänderung der Physionomie und des ganzen Habitus zum Stumpfen, Blöden, leise Thier-ähnlichen auf eine durchgreifende Umwandlung hindeuten würde. Sie sind nun ferner brauchbar zu einfachen, mechanischen Beschäftigungen, in denen sie Sorgfalt und Verstand zeigen können, sie selbst verlangen nichts weiter mehr, als das, was zur Befriedigung einfacher, sinn- licher Bedürfnisse genügt. Lässt man solche Genesene aus dem Irrenhause ins Leben zurückkehren, so sind sie in grosser Gefahr neuen, schwereren Irreseins oder eines allmähligen Fortschritts der geistigen Stumpfheit. In den Pflege-Anstalten führen sie oft viele Jahre lang ein relativ gesundes, ruhiges und arbeitsames Leben. Man hat solche Zustände als die allermildeste Form des Blöd- sinns zu betrachten. In allen höheren Graden fällt natürlich jeder Schein von Reconvalescenz weg und die zunehmende Abstumpfung bleibt nicht auf die feineren und delicateren psychischen Gebiete beschränkt. Häufig nimmt nun das ganze geistige Leben den Character wieder an, den es in der Kindheit hatte, wobei am auffallendsten die Fähigkeit zu allem abstracten Denken verloren gegangen, in manchen Formen dagegen (namentlich der Verwirrtheit) eine gewisse ober- flächliche und zusammenhangslose Lebendigkeit und Beweglichkeit des Vorstellens zurückgeblieben ist. Der Mangel aller Tiefe — weil eben nur relativ wenige und beschränkte Massen von Vorstellungen vorhanden sind, welche zu durchdringen wären — die Freude an Tand und Spielwerk, das zum Stoffe für ein oberflächliches Phanta- siren wird, und das nackte, durch keine Reflexion gehinderte Hervortreten Griesinger, psych. Krankhtn. 17

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/271>, abgerufen am 09.11.2024.