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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Secundäres Vorkommen des Blödsinns.
er still und wortkarg, am dritten verstummt er. Stierer Blick, injicirte rollende
Augen, Krämpfe der Schläfe, der Kaumuskeln und der Augen, Greifen nach dem
Kopf, starres, lebloses Gesicht, wie eine Bildsäule. Kein sinnlicher Eindruck
scheint percipirt zu werden, nur sehr starker Schall bewirkt leichte Zuckungen
der Gesichtsmuskeln, er geht herum und isst, ohne Empfinden oder Begehren aus-
zudrücken. Nach 3 Wochen wird Patient in eine Heilanstalt gebracht, und nach
einigen weiteren Wochen erwacht er. Er erinnert sich vollkommen der Zeit
und Umstände, die dem Hängen vorangegangen waren, bis zum Eintritt der Be-
wusstlosigkeit, und beschreibt den lebhaften Kampf seiner Gefühle zwischen Ent-
schluss und Ausführung, und die Empfindungen im Momente des Hängens, Ohren-
singen und Augenfunkeln. Von diesem Augenblicke an ist alle Erinnerung seiner
persönlichen Existenz bis zur Stunde seines Erwachens in der Heilanstalt ver-
schwunden; auch die Wiederbelebung nach dem Hängen und der mehrstündige
Besitz des Bewusstseins war ihm ganz unbewusst. Das zweite Wiedererwachen
erfolgte plötzlich; eines Tages im Hofraume erwachte in ihm die Vorstellung von
den ihn umgebenden Gebäuden, welche Erinnerungen anderer ähnlicher Gegen-
stände in ihm weckte. Von jetzt an regelten sich schnell die Geistesthätigkeiten
und die Gesundheit. --

(Meding. In Siebenhaar, Magazin für die Staatsarzneikunde. I. 1842.)

Unendlich viel häufiger entsteht der erworbene Blödsinn con-
secutiv
, d. h. nachdem ihm die Symptome einer andern schweren
Gehirn-Krankheit (Epilepsie, acute Meningitis, typhöses Gehirn-
Leiden etc.), und ganz besonders, nachdem ihm andere Formen
des Irreseins vorausgegangen sind. Er bildet den endlichen traurigen
Ausgang aller ungeheilt gebliebenen Geisteskrankheiten, der Melan-
cholie, der Manie und der Verrücktheit, und merkwürdigerweise geht
auch dem senilen Blödsinn nicht selten eine Periode der Exaltation,
ein kurzes Stadium maniacum voraus, das sich durch grosse psychische
Reizbarkeit, durch einen neu erwachenden Hang zur Thätigkeit,
durch wieder eintretenden Geschlechtstrieb (Heirathenwollen etc.) und
Neigung zu spirituosen Getränken characterisirt; diesem folgt dann ent-
weder ein schneller psychischer Collapsus oder solche kürzere Exal-
tations-Perioden wechseln mehreremale mit der eintretenden Schwäche.
Auch in der Reconvalescenz-Periode namentlich von heftiger Tobsucht
stellt sich nicht selten ein Zustand tiefer psychischer Schwäche ein;
er verhält sich zum wahren Blödsinn, wie eine starke, lange dauernde
Ermüdung zur wirklichen Paralyse.

Nicht ganz selten, wiewohl bis jetzt wenig beachtet, ist ein
Seelenzustand mit dem Character mässiger Schwäche, welcher zu-
weilen, nach scheinbarer Genesung aus andern Formen, z. B. aus
der Manie eintritt und dann für immer zurückbleibt. Bei den so
Genesenen ist wieder völlige Gemüthsruhe eingetreten, sie können
auch wieder formal richtig denken und urtheilen, das Gedächtniss

Secundäres Vorkommen des Blödsinns.
er still und wortkarg, am dritten verstummt er. Stierer Blick, injicirte rollende
Augen, Krämpfe der Schläfe, der Kaumuskeln und der Augen, Greifen nach dem
Kopf, starres, lebloses Gesicht, wie eine Bildsäule. Kein sinnlicher Eindruck
scheint percipirt zu werden, nur sehr starker Schall bewirkt leichte Zuckungen
der Gesichtsmuskeln, er geht herum und isst, ohne Empfinden oder Begehren aus-
zudrücken. Nach 3 Wochen wird Patient in eine Heilanstalt gebracht, und nach
einigen weiteren Wochen erwacht er. Er erinnert sich vollkommen der Zeit
und Umstände, die dem Hängen vorangegangen waren, bis zum Eintritt der Be-
wusstlosigkeit, und beschreibt den lebhaften Kampf seiner Gefühle zwischen Ent-
schluss und Ausführung, und die Empfindungen im Momente des Hängens, Ohren-
singen und Augenfunkeln. Von diesem Augenblicke an ist alle Erinnerung seiner
persönlichen Existenz bis zur Stunde seines Erwachens in der Heilanstalt ver-
schwunden; auch die Wiederbelebung nach dem Hängen und der mehrstündige
Besitz des Bewusstseins war ihm ganz unbewusst. Das zweite Wiedererwachen
erfolgte plötzlich; eines Tages im Hofraume erwachte in ihm die Vorstellung von
den ihn umgebenden Gebäuden, welche Erinnerungen anderer ähnlicher Gegen-
stände in ihm weckte. Von jetzt an regelten sich schnell die Geistesthätigkeiten
und die Gesundheit. —

(Meding. In Siebenhaar, Magazin für die Staatsarzneikunde. I. 1842.)

Unendlich viel häufiger entsteht der erworbene Blödsinn con-
secutiv
, d. h. nachdem ihm die Symptome einer andern schweren
Gehirn-Krankheit (Epilepsie, acute Meningitis, typhöses Gehirn-
Leiden etc.), und ganz besonders, nachdem ihm andere Formen
des Irreseins vorausgegangen sind. Er bildet den endlichen traurigen
Ausgang aller ungeheilt gebliebenen Geisteskrankheiten, der Melan-
cholie, der Manie und der Verrücktheit, und merkwürdigerweise geht
auch dem senilen Blödsinn nicht selten eine Periode der Exaltation,
ein kurzes Stadium maniacum voraus, das sich durch grosse psychische
Reizbarkeit, durch einen neu erwachenden Hang zur Thätigkeit,
durch wieder eintretenden Geschlechtstrieb (Heirathenwollen etc.) und
Neigung zu spirituosen Getränken characterisirt; diesem folgt dann ent-
weder ein schneller psychischer Collapsus oder solche kürzere Exal-
tations-Perioden wechseln mehreremale mit der eintretenden Schwäche.
Auch in der Reconvalescenz-Periode namentlich von heftiger Tobsucht
stellt sich nicht selten ein Zustand tiefer psychischer Schwäche ein;
er verhält sich zum wahren Blödsinn, wie eine starke, lange dauernde
Ermüdung zur wirklichen Paralyse.

Nicht ganz selten, wiewohl bis jetzt wenig beachtet, ist ein
Seelenzustand mit dem Character mässiger Schwäche, welcher zu-
weilen, nach scheinbarer Genesung aus andern Formen, z. B. aus
der Manie eintritt und dann für immer zurückbleibt. Bei den so
Genesenen ist wieder völlige Gemüthsruhe eingetreten, sie können
auch wieder formal richtig denken und urtheilen, das Gedächtniss

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[256/0270] Secundäres Vorkommen des Blödsinns. er still und wortkarg, am dritten verstummt er. Stierer Blick, injicirte rollende Augen, Krämpfe der Schläfe, der Kaumuskeln und der Augen, Greifen nach dem Kopf, starres, lebloses Gesicht, wie eine Bildsäule. Kein sinnlicher Eindruck scheint percipirt zu werden, nur sehr starker Schall bewirkt leichte Zuckungen der Gesichtsmuskeln, er geht herum und isst, ohne Empfinden oder Begehren aus- zudrücken. Nach 3 Wochen wird Patient in eine Heilanstalt gebracht, und nach einigen weiteren Wochen erwacht er. Er erinnert sich vollkommen der Zeit und Umstände, die dem Hängen vorangegangen waren, bis zum Eintritt der Be- wusstlosigkeit, und beschreibt den lebhaften Kampf seiner Gefühle zwischen Ent- schluss und Ausführung, und die Empfindungen im Momente des Hängens, Ohren- singen und Augenfunkeln. Von diesem Augenblicke an ist alle Erinnerung seiner persönlichen Existenz bis zur Stunde seines Erwachens in der Heilanstalt ver- schwunden; auch die Wiederbelebung nach dem Hängen und der mehrstündige Besitz des Bewusstseins war ihm ganz unbewusst. Das zweite Wiedererwachen erfolgte plötzlich; eines Tages im Hofraume erwachte in ihm die Vorstellung von den ihn umgebenden Gebäuden, welche Erinnerungen anderer ähnlicher Gegen- stände in ihm weckte. Von jetzt an regelten sich schnell die Geistesthätigkeiten und die Gesundheit. — (Meding. In Siebenhaar, Magazin für die Staatsarzneikunde. I. 1842.) Unendlich viel häufiger entsteht der erworbene Blödsinn con- secutiv, d. h. nachdem ihm die Symptome einer andern schweren Gehirn-Krankheit (Epilepsie, acute Meningitis, typhöses Gehirn- Leiden etc.), und ganz besonders, nachdem ihm andere Formen des Irreseins vorausgegangen sind. Er bildet den endlichen traurigen Ausgang aller ungeheilt gebliebenen Geisteskrankheiten, der Melan- cholie, der Manie und der Verrücktheit, und merkwürdigerweise geht auch dem senilen Blödsinn nicht selten eine Periode der Exaltation, ein kurzes Stadium maniacum voraus, das sich durch grosse psychische Reizbarkeit, durch einen neu erwachenden Hang zur Thätigkeit, durch wieder eintretenden Geschlechtstrieb (Heirathenwollen etc.) und Neigung zu spirituosen Getränken characterisirt; diesem folgt dann ent- weder ein schneller psychischer Collapsus oder solche kürzere Exal- tations-Perioden wechseln mehreremale mit der eintretenden Schwäche. Auch in der Reconvalescenz-Periode namentlich von heftiger Tobsucht stellt sich nicht selten ein Zustand tiefer psychischer Schwäche ein; er verhält sich zum wahren Blödsinn, wie eine starke, lange dauernde Ermüdung zur wirklichen Paralyse. Nicht ganz selten, wiewohl bis jetzt wenig beachtet, ist ein Seelenzustand mit dem Character mässiger Schwäche, welcher zu- weilen, nach scheinbarer Genesung aus andern Formen, z. B. aus der Manie eintritt und dann für immer zurückbleibt. Bei den so Genesenen ist wieder völlige Gemüthsruhe eingetreten, sie können auch wieder formal richtig denken und urtheilen, das Gedächtniss

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/270>, abgerufen am 09.05.2024.