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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Symptomatologie des Wahnsinns.
unmittelbar zu (häufig stürmischen) Muskelbewegungen Anlass, in
denen es sich entladet -- daher eben das Triebartige, nur äusser-
lich Exaltirte dieser Zustände; je mehr dagegen auf das exaltirte
Wollen geordnete Reihen krankhafter Vorstellungen und Urtheile ein-
wirken können, je mehr jener Fluss nach aussen nicht bloss von einem
dunkeln stürmischen Bedürfnisse, sondern von bewussten Gedanken
bewegt wird, je mehr Planmässiges desshalb in das kranke Wollen
überhaupt kommt, um so mehr hat man den Zustand als von der
Tobsucht verschiedenen, als Wahnsinn aufzufassen.

Am deutlichsten zeigt sich solcher Unterschied, wenn, wie auch hier nicht
selten vorkommt, gleichfalls einzelne Gruppen von Empfindungen und dunklen
Vorstellungen mit besonderer Lebhaftigkeit auftreten und als Triebe nach aussen
drängen, z. B. der Geschlechtstrieb. Der sexuell exaltirte rein Tobsüchtige sucht
seinen Trieb auf die nächste, beste Weise zu befriedigen, er macht auf jedes
weibliche Wesen, das ihm in den Weg kommt, Angriffe, oder die Nymphoma-
nische erlässt an jeden Besucher schamlose Forderungen. In diesen Zuständen
dagegen wird der gesteigerte Geschlechtstrieb erst, ehe er zur Handlungen deter-
minirt, durch neu dazu gekommene Vorstellungen und Urtheile (und zwar von
krankhaft exaltirter Beschaffenheit) bestimmt, der Kranke will ihn dann nur im
Sinne seiner Selbstüberschätzung und gewisser Wahnvorstellungen befriedigen;
er macht nur Prinzessinnen und vornehmen Damen seine Anträge, *) die weibliche
Kranke spielt imaginäre Liebesabentheuer mit Fürsten und Königen u. dergl.

Die Aufregung des Wahnsinnigen tritt also nicht so unmittelbar nach aussen,
das Streben wird von klar bewussten Vorstellungen und Urtheilen geleitet, ver-
liert dadurch das Triebartige und wird zum wirklichen kranken Wollen. Bei
weit grösserer, zuweilen bei vollständiger, äusserer Ruhe ist eine weit tiefere,
innere Unvernunft vorhanden, als in der Tobsucht, weil eben aus der allgemeinen
Exaltation sich für die Intelligenz hier bald Folgen ergeben, welche die letzten
Prämissen eines gesunden Seelenlebens aufheben.

Anomalieen des Vorstellens. Auch hier ist zunächst eine
rein formale Steigerung in der Lebendigkeit und Schnelligkeit dieser
Processe zu bemerken, welche sich in dem Reichthume an Vor-
stellungen, dessen sich der Kranke innerlich erfreut, in den
lebhaften Reden und in dem häufigen Wechsel der Objecte, auf
welche sich das kranke Wollen richtet, zu erkennen gibt. Doch ver-
hält es sich so gewöhnlich nur im Anfang, während später einzelne
wenige Wahnvorstellungen ausschliesslich herrschen und ohne leben-
digen Wechsel mit andern, das Streben bestimmen.

Eine weitere Anomalie des Vorstellens ist eine innerliche Stei-
gerung, eine Uebertriebenheit der Vorstellungen in Bezug auf ihren
Inhalt, sich kundgebend in der Neigung, in grossen hochtrabenden

*) S. weiter unten einen Fall dieser Art.

Symptomatologie des Wahnsinns.
unmittelbar zu (häufig stürmischen) Muskelbewegungen Anlass, in
denen es sich entladet — daher eben das Triebartige, nur äusser-
lich Exaltirte dieser Zustände; je mehr dagegen auf das exaltirte
Wollen geordnete Reihen krankhafter Vorstellungen und Urtheile ein-
wirken können, je mehr jener Fluss nach aussen nicht bloss von einem
dunkeln stürmischen Bedürfnisse, sondern von bewussten Gedanken
bewegt wird, je mehr Planmässiges desshalb in das kranke Wollen
überhaupt kommt, um so mehr hat man den Zustand als von der
Tobsucht verschiedenen, als Wahnsinn aufzufassen.

Am deutlichsten zeigt sich solcher Unterschied, wenn, wie auch hier nicht
selten vorkommt, gleichfalls einzelne Gruppen von Empfindungen und dunklen
Vorstellungen mit besonderer Lebhaftigkeit auftreten und als Triebe nach aussen
drängen, z. B. der Geschlechtstrieb. Der sexuell exaltirte rein Tobsüchtige sucht
seinen Trieb auf die nächste, beste Weise zu befriedigen, er macht auf jedes
weibliche Wesen, das ihm in den Weg kommt, Angriffe, oder die Nymphoma-
nische erlässt an jeden Besucher schamlose Forderungen. In diesen Zuständen
dagegen wird der gesteigerte Geschlechtstrieb erst, ehe er zur Handlungen deter-
minirt, durch neu dazu gekommene Vorstellungen und Urtheile (und zwar von
krankhaft exaltirter Beschaffenheit) bestimmt, der Kranke will ihn dann nur im
Sinne seiner Selbstüberschätzung und gewisser Wahnvorstellungen befriedigen;
er macht nur Prinzessinnen und vornehmen Damen seine Anträge, *) die weibliche
Kranke spielt imaginäre Liebesabentheuer mit Fürsten und Königen u. dergl.

Die Aufregung des Wahnsinnigen tritt also nicht so unmittelbar nach aussen,
das Streben wird von klar bewussten Vorstellungen und Urtheilen geleitet, ver-
liert dadurch das Triebartige und wird zum wirklichen kranken Wollen. Bei
weit grösserer, zuweilen bei vollständiger, äusserer Ruhe ist eine weit tiefere,
innere Unvernunft vorhanden, als in der Tobsucht, weil eben aus der allgemeinen
Exaltation sich für die Intelligenz hier bald Folgen ergeben, welche die letzten
Prämissen eines gesunden Seelenlebens aufheben.

Anomalieen des Vorstellens. Auch hier ist zunächst eine
rein formale Steigerung in der Lebendigkeit und Schnelligkeit dieser
Processe zu bemerken, welche sich in dem Reichthume an Vor-
stellungen, dessen sich der Kranke innerlich erfreut, in den
lebhaften Reden und in dem häufigen Wechsel der Objecte, auf
welche sich das kranke Wollen richtet, zu erkennen gibt. Doch ver-
hält es sich so gewöhnlich nur im Anfang, während später einzelne
wenige Wahnvorstellungen ausschliesslich herrschen und ohne leben-
digen Wechsel mit andern, das Streben bestimmen.

Eine weitere Anomalie des Vorstellens ist eine innerliche Stei-
gerung, eine Uebertriebenheit der Vorstellungen in Bezug auf ihren
Inhalt, sich kundgebend in der Neigung, in grossen hochtrabenden

*) S. weiter unten einen Fall dieser Art.
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[240/0254] Symptomatologie des Wahnsinns. unmittelbar zu (häufig stürmischen) Muskelbewegungen Anlass, in denen es sich entladet — daher eben das Triebartige, nur äusser- lich Exaltirte dieser Zustände; je mehr dagegen auf das exaltirte Wollen geordnete Reihen krankhafter Vorstellungen und Urtheile ein- wirken können, je mehr jener Fluss nach aussen nicht bloss von einem dunkeln stürmischen Bedürfnisse, sondern von bewussten Gedanken bewegt wird, je mehr Planmässiges desshalb in das kranke Wollen überhaupt kommt, um so mehr hat man den Zustand als von der Tobsucht verschiedenen, als Wahnsinn aufzufassen. Am deutlichsten zeigt sich solcher Unterschied, wenn, wie auch hier nicht selten vorkommt, gleichfalls einzelne Gruppen von Empfindungen und dunklen Vorstellungen mit besonderer Lebhaftigkeit auftreten und als Triebe nach aussen drängen, z. B. der Geschlechtstrieb. Der sexuell exaltirte rein Tobsüchtige sucht seinen Trieb auf die nächste, beste Weise zu befriedigen, er macht auf jedes weibliche Wesen, das ihm in den Weg kommt, Angriffe, oder die Nymphoma- nische erlässt an jeden Besucher schamlose Forderungen. In diesen Zuständen dagegen wird der gesteigerte Geschlechtstrieb erst, ehe er zur Handlungen deter- minirt, durch neu dazu gekommene Vorstellungen und Urtheile (und zwar von krankhaft exaltirter Beschaffenheit) bestimmt, der Kranke will ihn dann nur im Sinne seiner Selbstüberschätzung und gewisser Wahnvorstellungen befriedigen; er macht nur Prinzessinnen und vornehmen Damen seine Anträge, *) die weibliche Kranke spielt imaginäre Liebesabentheuer mit Fürsten und Königen u. dergl. Die Aufregung des Wahnsinnigen tritt also nicht so unmittelbar nach aussen, das Streben wird von klar bewussten Vorstellungen und Urtheilen geleitet, ver- liert dadurch das Triebartige und wird zum wirklichen kranken Wollen. Bei weit grösserer, zuweilen bei vollständiger, äusserer Ruhe ist eine weit tiefere, innere Unvernunft vorhanden, als in der Tobsucht, weil eben aus der allgemeinen Exaltation sich für die Intelligenz hier bald Folgen ergeben, welche die letzten Prämissen eines gesunden Seelenlebens aufheben. Anomalieen des Vorstellens. Auch hier ist zunächst eine rein formale Steigerung in der Lebendigkeit und Schnelligkeit dieser Processe zu bemerken, welche sich in dem Reichthume an Vor- stellungen, dessen sich der Kranke innerlich erfreut, in den lebhaften Reden und in dem häufigen Wechsel der Objecte, auf welche sich das kranke Wollen richtet, zu erkennen gibt. Doch ver- hält es sich so gewöhnlich nur im Anfang, während später einzelne wenige Wahnvorstellungen ausschliesslich herrschen und ohne leben- digen Wechsel mit andern, das Streben bestimmen. Eine weitere Anomalie des Vorstellens ist eine innerliche Stei- gerung, eine Uebertriebenheit der Vorstellungen in Bezug auf ihren Inhalt, sich kundgebend in der Neigung, in grossen hochtrabenden *) S. weiter unten einen Fall dieser Art.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/254>, abgerufen am 05.12.2024.