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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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dargebotenen *) Gedanken des Selbstmords entweder gar keine hem-
mende oder beschränkende Vorstellungen und Triebe entgegen, oder
solche werden doch bald an jenem abgenützt und erschöpft, der in
steter Wiederholung und mit der Hartnäckigkeit aller andern derartigen
melancholischen Stimmungen sich immer wieder dem Ich aufdringt.
Je unbedeutender also die äusseren Motive der That sind, je mehr
sich im früheren Leben Ursachen oder schon einzelne Symptome
beginnender Seelenstörung nachweisen lassen, je ungewöhnlicher
ferner und je grausamer die angewandten Mittel der Ausführung sind **),
um so eher hat man Grund, die That als Ergebniss einer krank-
haften
Verstimmung zu betrachten.

Zuweilen sieht man ganz plötzlich bei bisher Gesunden den Trieb
zum Selbstmord, als eine Form des Raptus melancholicus, mit Um-
neblung des Bewusstseins und allen Zeichen grosser Exaltation auf-
treten (Fall XIII.). Weit häufiger kommen schnelle Entschlüsse zum
freiwilligen Tod, denen unmittelbar die Ausführung folgt, ohne eine
Spur von Delirium vor; bei näherer Untersuchung findet man alsdann
sehr häufig, dass schon längere Zeit ein Zustand von Hypochondrie,
von steter Reflexion auf den eigenen Gesundheitszustand vorausging,
dass sich die Kranken über eine Unmöglichkeit, wie früher zu denken
und zu wollen, über allgemeine Ermattung mit vagen Symptomen körper-
lichen Uebelbefindens, namentlich einiger Verdauungsstörung beklagten.
Mehr chronisch ist gewöhnlich der Lebensüberdruss, der als Spleen
aus Blasirtheit auftritt, jene allgemeine Erschöpfung und Verödung
des psychischen Lebens, die sich mehr als durch irgend eine andere
Ursache, in Folge sexueller Erschöpfung einstellt, und der ganz ent-
schieden durchaus nicht selten locale, organische Erkrankungen der
Genitalien zu Grunde liegen ***); auch ohne solche kommen ähnliche
Verstimmungen bei Onanisten vor, und es scheint fast, als ob schon
leichtere Störungen in der Geschlechts-Entwicklung nicht nur jene
sehnsüchtig-hypochondrischen Seelenzustände, die nicht selten in der
Pubertätsepoche auftreten, sondern bei einzelnen Individuen alsbald
den Trieb zur Selbstentleibung wecken könnten.

Der Selbstmord kommt in allen Lebensaltern, vom 7. Jahre an,
vor. Seine Erblichkeit und sein Alterniren mit anderen Formen des
Irreseins in verschiedenen Generationen ist bereits (§. 71.) erwähnt.

*) Nachahmung des Selbstmords.
**) Vgl. den schrecklichen Fall von Verhungern in Hufeland Journal 1819,
den Fall des Matthieu Lovat, der sich selbst kreuzigte etc.
***) Vgl. die schon mehrmals erwähnten Krankheitsgeschichten Lallemands.
Griesinger, psych. Krankhtn. 13

Modificationen desselben.
dargebotenen *) Gedanken des Selbstmords entweder gar keine hem-
mende oder beschränkende Vorstellungen und Triebe entgegen, oder
solche werden doch bald an jenem abgenützt und erschöpft, der in
steter Wiederholung und mit der Hartnäckigkeit aller andern derartigen
melancholischen Stimmungen sich immer wieder dem Ich aufdringt.
Je unbedeutender also die äusseren Motive der That sind, je mehr
sich im früheren Leben Ursachen oder schon einzelne Symptome
beginnender Seelenstörung nachweisen lassen, je ungewöhnlicher
ferner und je grausamer die angewandten Mittel der Ausführung sind **),
um so eher hat man Grund, die That als Ergebniss einer krank-
haften
Verstimmung zu betrachten.

Zuweilen sieht man ganz plötzlich bei bisher Gesunden den Trieb
zum Selbstmord, als eine Form des Raptus melancholicus, mit Um-
neblung des Bewusstseins und allen Zeichen grosser Exaltation auf-
treten (Fall XIII.). Weit häufiger kommen schnelle Entschlüsse zum
freiwilligen Tod, denen unmittelbar die Ausführung folgt, ohne eine
Spur von Delirium vor; bei näherer Untersuchung findet man alsdann
sehr häufig, dass schon längere Zeit ein Zustand von Hypochondrie,
von steter Reflexion auf den eigenen Gesundheitszustand vorausging,
dass sich die Kranken über eine Unmöglichkeit, wie früher zu denken
und zu wollen, über allgemeine Ermattung mit vagen Symptomen körper-
lichen Uebelbefindens, namentlich einiger Verdauungsstörung beklagten.
Mehr chronisch ist gewöhnlich der Lebensüberdruss, der als Spleen
aus Blasirtheit auftritt, jene allgemeine Erschöpfung und Verödung
des psychischen Lebens, die sich mehr als durch irgend eine andere
Ursache, in Folge sexueller Erschöpfung einstellt, und der ganz ent-
schieden durchaus nicht selten locale, organische Erkrankungen der
Genitalien zu Grunde liegen ***); auch ohne solche kommen ähnliche
Verstimmungen bei Onanisten vor, und es scheint fast, als ob schon
leichtere Störungen in der Geschlechts-Entwicklung nicht nur jene
sehnsüchtig-hypochondrischen Seelenzustände, die nicht selten in der
Pubertätsepoche auftreten, sondern bei einzelnen Individuen alsbald
den Trieb zur Selbstentleibung wecken könnten.

Der Selbstmord kommt in allen Lebensaltern, vom 7. Jahre an,
vor. Seine Erblichkeit und sein Alterniren mit anderen Formen des
Irreseins in verschiedenen Generationen ist bereits (§. 71.) erwähnt.

*) Nachahmung des Selbstmords.
**) Vgl. den schrecklichen Fall von Verhungern in Hufeland Journal 1819,
den Fall des Matthieu Lovat, der sich selbst kreuzigte etc.
***) Vgl. die schon mehrmals erwähnten Krankheitsgeschichten Lallemands.
Griesinger, psych. Krankhtn. 13
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[193/0207] Modificationen desselben. dargebotenen *) Gedanken des Selbstmords entweder gar keine hem- mende oder beschränkende Vorstellungen und Triebe entgegen, oder solche werden doch bald an jenem abgenützt und erschöpft, der in steter Wiederholung und mit der Hartnäckigkeit aller andern derartigen melancholischen Stimmungen sich immer wieder dem Ich aufdringt. Je unbedeutender also die äusseren Motive der That sind, je mehr sich im früheren Leben Ursachen oder schon einzelne Symptome beginnender Seelenstörung nachweisen lassen, je ungewöhnlicher ferner und je grausamer die angewandten Mittel der Ausführung sind **), um so eher hat man Grund, die That als Ergebniss einer krank- haften Verstimmung zu betrachten. Zuweilen sieht man ganz plötzlich bei bisher Gesunden den Trieb zum Selbstmord, als eine Form des Raptus melancholicus, mit Um- neblung des Bewusstseins und allen Zeichen grosser Exaltation auf- treten (Fall XIII.). Weit häufiger kommen schnelle Entschlüsse zum freiwilligen Tod, denen unmittelbar die Ausführung folgt, ohne eine Spur von Delirium vor; bei näherer Untersuchung findet man alsdann sehr häufig, dass schon längere Zeit ein Zustand von Hypochondrie, von steter Reflexion auf den eigenen Gesundheitszustand vorausging, dass sich die Kranken über eine Unmöglichkeit, wie früher zu denken und zu wollen, über allgemeine Ermattung mit vagen Symptomen körper- lichen Uebelbefindens, namentlich einiger Verdauungsstörung beklagten. Mehr chronisch ist gewöhnlich der Lebensüberdruss, der als Spleen aus Blasirtheit auftritt, jene allgemeine Erschöpfung und Verödung des psychischen Lebens, die sich mehr als durch irgend eine andere Ursache, in Folge sexueller Erschöpfung einstellt, und der ganz ent- schieden durchaus nicht selten locale, organische Erkrankungen der Genitalien zu Grunde liegen ***); auch ohne solche kommen ähnliche Verstimmungen bei Onanisten vor, und es scheint fast, als ob schon leichtere Störungen in der Geschlechts-Entwicklung nicht nur jene sehnsüchtig-hypochondrischen Seelenzustände, die nicht selten in der Pubertätsepoche auftreten, sondern bei einzelnen Individuen alsbald den Trieb zur Selbstentleibung wecken könnten. Der Selbstmord kommt in allen Lebensaltern, vom 7. Jahre an, vor. Seine Erblichkeit und sein Alterniren mit anderen Formen des Irreseins in verschiedenen Generationen ist bereits (§. 71.) erwähnt. *) Nachahmung des Selbstmords. **) Vgl. den schrecklichen Fall von Verhungern in Hufeland Journal 1819, den Fall des Matthieu Lovat, der sich selbst kreuzigte etc. ***) Vgl. die schon mehrmals erwähnten Krankheitsgeschichten Lallemands. Griesinger, psych. Krankhtn. 13

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/207>, abgerufen am 09.11.2024.