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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Der Selbstmord.
Autoritäten sagen mögen *) -- er ist nicht immer das Symptom oder
Ergebniss einer psychischen Krankheit. Da ist er es nicht, wo die
Stimmung des Lebensüberdrusses in einem gewissen richtigen Ver-
hältnisse zu den gegebenen Umständen, zu den äusserlich nachweis-
baren psychischen Ursachen steht (§. 33.). Wenn ein feinfühlender
Mensch sich tödtet, um den Verlust seiner Ehre oder eines anderen,
mit seinem geistigen Sein aufs innigste verwachsenen, hohen Gutes
nicht zu überleben, wenn Jemand den Tod einem in tiefem Elend,
in Schande, in stets sich erneuerndem geistigem und körperlichem
Leiden hinzubringenden Leben vorzieht, so ist vielleicht seine Be-
rechtigung hiezu von Seiten der Moral anzufechten, aber es liegt
kein Grund vor, einen solchen für geisteskrank zu halten -- der
Widerwille gegen das Leben und der Vorsatz der Selbstvernich-
tung entspricht der Stärke der widrigen Eindrücke, und die That
wird mit Besonnenheit beschlossen und vollführt.

Die Fälle dieser Categorie sind indessen entschieden die weit
selteneren; meistens beruht der Trieb zum Selbstmorde entweder auf
ausgebildeter Melancholie mit allen Zeichen derselben oder (noch
häufiger) auf einem der Schwermuth wenigstens nahe stehenden Zu-
stande mässiger, aber allgemeiner schmerzlicher Verstimmung, der
auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit liegt.
Die Disposition zum leichten Eintritt solcher psychischen Schmerz-
zustände, die meist mit Erschöpfung, Kälte und Abstumpfung der
Gemüths-Reaction zusammenfallen, ist ganz dieselbe, wie die Dispo-
sition zu Geisteskrankheiten. Sind jene einmal eingetreten, so haften
und herrschen sie freilich am ehesten da, wo ein schwaches Ich
der Stimmung nur geringen Widerstand leistet (p. 41), erscheinen
also oft wesentlich als Ergebnisse bestehender Characterschwäche;
aber sie unterscheiden sich durch ihre Entstehung von innen heraus
(§. 33.), durch den Mangel genügender psychischer Anlässe zu der
That, oft durch deutliches Auftreten im Gefolge körperlicher Krank-
heit, durch periodische, psychisch unmotivirte Exacerbationen, zu-
weilen durch nachweisbare Erblichkeit, ganz wesentlich von dem
Lebensüberdrusse, der das directe Ergebniss genügender psychischer
Ursachen ist. Wo solche Verstimmungen das ganze psychische Leben
beherrschen, da treten dem von selbst entstandenen oder äusserlich

*) Esquirol (l. c. p. 383): "Ich glaube bewiesen zu haben, dass der Mensch
nur dann sein Leben verkürzen will, wenn er delirirt, und dass die Selbstmör-
der geisteskrank sind." Falret, de l'hypoch. et du suicide. 1822. p. 137. --
Esquirol drückt sich übrigens an andern Stellen seiner Schrift minder absolut aus.

Der Selbstmord.
Autoritäten sagen mögen *) — er ist nicht immer das Symptom oder
Ergebniss einer psychischen Krankheit. Da ist er es nicht, wo die
Stimmung des Lebensüberdrusses in einem gewissen richtigen Ver-
hältnisse zu den gegebenen Umständen, zu den äusserlich nachweis-
baren psychischen Ursachen steht (§. 33.). Wenn ein feinfühlender
Mensch sich tödtet, um den Verlust seiner Ehre oder eines anderen,
mit seinem geistigen Sein aufs innigste verwachsenen, hohen Gutes
nicht zu überleben, wenn Jemand den Tod einem in tiefem Elend,
in Schande, in stets sich erneuerndem geistigem und körperlichem
Leiden hinzubringenden Leben vorzieht, so ist vielleicht seine Be-
rechtigung hiezu von Seiten der Moral anzufechten, aber es liegt
kein Grund vor, einen solchen für geisteskrank zu halten — der
Widerwille gegen das Leben und der Vorsatz der Selbstvernich-
tung entspricht der Stärke der widrigen Eindrücke, und die That
wird mit Besonnenheit beschlossen und vollführt.

Die Fälle dieser Categorie sind indessen entschieden die weit
selteneren; meistens beruht der Trieb zum Selbstmorde entweder auf
ausgebildeter Melancholie mit allen Zeichen derselben oder (noch
häufiger) auf einem der Schwermuth wenigstens nahe stehenden Zu-
stande mässiger, aber allgemeiner schmerzlicher Verstimmung, der
auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit liegt.
Die Disposition zum leichten Eintritt solcher psychischen Schmerz-
zustände, die meist mit Erschöpfung, Kälte und Abstumpfung der
Gemüths-Reaction zusammenfallen, ist ganz dieselbe, wie die Dispo-
sition zu Geisteskrankheiten. Sind jene einmal eingetreten, so haften
und herrschen sie freilich am ehesten da, wo ein schwaches Ich
der Stimmung nur geringen Widerstand leistet (p. 41), erscheinen
also oft wesentlich als Ergebnisse bestehender Characterschwäche;
aber sie unterscheiden sich durch ihre Entstehung von innen heraus
(§. 33.), durch den Mangel genügender psychischer Anlässe zu der
That, oft durch deutliches Auftreten im Gefolge körperlicher Krank-
heit, durch periodische, psychisch unmotivirte Exacerbationen, zu-
weilen durch nachweisbare Erblichkeit, ganz wesentlich von dem
Lebensüberdrusse, der das directe Ergebniss genügender psychischer
Ursachen ist. Wo solche Verstimmungen das ganze psychische Leben
beherrschen, da treten dem von selbst entstandenen oder äusserlich

*) Esquirol (l. c. p. 383): „Ich glaube bewiesen zu haben, dass der Mensch
nur dann sein Leben verkürzen will, wenn er delirirt, und dass die Selbstmör-
der geisteskrank sind.“ Falret, de l’hypoch. et du suicide. 1822. p. 137. —
Esquirol drückt sich übrigens an andern Stellen seiner Schrift minder absolut aus.
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[192/0206] Der Selbstmord. Autoritäten sagen mögen *) — er ist nicht immer das Symptom oder Ergebniss einer psychischen Krankheit. Da ist er es nicht, wo die Stimmung des Lebensüberdrusses in einem gewissen richtigen Ver- hältnisse zu den gegebenen Umständen, zu den äusserlich nachweis- baren psychischen Ursachen steht (§. 33.). Wenn ein feinfühlender Mensch sich tödtet, um den Verlust seiner Ehre oder eines anderen, mit seinem geistigen Sein aufs innigste verwachsenen, hohen Gutes nicht zu überleben, wenn Jemand den Tod einem in tiefem Elend, in Schande, in stets sich erneuerndem geistigem und körperlichem Leiden hinzubringenden Leben vorzieht, so ist vielleicht seine Be- rechtigung hiezu von Seiten der Moral anzufechten, aber es liegt kein Grund vor, einen solchen für geisteskrank zu halten — der Widerwille gegen das Leben und der Vorsatz der Selbstvernich- tung entspricht der Stärke der widrigen Eindrücke, und die That wird mit Besonnenheit beschlossen und vollführt. Die Fälle dieser Categorie sind indessen entschieden die weit selteneren; meistens beruht der Trieb zum Selbstmorde entweder auf ausgebildeter Melancholie mit allen Zeichen derselben oder (noch häufiger) auf einem der Schwermuth wenigstens nahe stehenden Zu- stande mässiger, aber allgemeiner schmerzlicher Verstimmung, der auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit liegt. Die Disposition zum leichten Eintritt solcher psychischen Schmerz- zustände, die meist mit Erschöpfung, Kälte und Abstumpfung der Gemüths-Reaction zusammenfallen, ist ganz dieselbe, wie die Dispo- sition zu Geisteskrankheiten. Sind jene einmal eingetreten, so haften und herrschen sie freilich am ehesten da, wo ein schwaches Ich der Stimmung nur geringen Widerstand leistet (p. 41), erscheinen also oft wesentlich als Ergebnisse bestehender Characterschwäche; aber sie unterscheiden sich durch ihre Entstehung von innen heraus (§. 33.), durch den Mangel genügender psychischer Anlässe zu der That, oft durch deutliches Auftreten im Gefolge körperlicher Krank- heit, durch periodische, psychisch unmotivirte Exacerbationen, zu- weilen durch nachweisbare Erblichkeit, ganz wesentlich von dem Lebensüberdrusse, der das directe Ergebniss genügender psychischer Ursachen ist. Wo solche Verstimmungen das ganze psychische Leben beherrschen, da treten dem von selbst entstandenen oder äusserlich *) Esquirol (l. c. p. 383): „Ich glaube bewiesen zu haben, dass der Mensch nur dann sein Leben verkürzen will, wenn er delirirt, und dass die Selbstmör- der geisteskrank sind.“ Falret, de l’hypoch. et du suicide. 1822. p. 137. — Esquirol drückt sich übrigens an andern Stellen seiner Schrift minder absolut aus.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/206>, abgerufen am 04.05.2024.