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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Verlauf und Ausgänge der Hypochondrie.
übertriebene geistige Anstrengung etc. erst Störungen der Verdauung,
der Circulation, der Secretionen hervorrufen, welche zur Quelle der
Krankheitsgefühle werden.

Hypochondrische Zustände kommen fast niemals in der Kindheit,
zuweilen aber schon in der Pubertäts-Periode vor. Sie sind bei
Männern häufiger als bei Weibern; doch kann man auch bei letzterem
Geschlecht nicht selten characteristische und weit gediehene Fälle
beobachten. -- Der Verlauf ist im Allgemeinen sehr langwierig; doch
kommen Remissionen vor. Wir haben die Hypochondrie, wie die
intermittirende Manie, in fast regelmässigen Zeitepochen mit mehr-
jährigen freien Zwischenräumen auftreten sehen. Ein andermal haben
wir in einem schweren Fall (weiblichen Geschlechts) eine fast voll-
ständige Remission mit dem Eintritt einer spontanen heftigen, mit
Reissen in der ganzen Wirbelsäule verbundenen Diarrhoe beobachtet.

Während des sehr chronischen Verlaufs der Hypochondrie kann
die Ernährung und das Aussehen des Kranken oft lange gut bleiben;
mit der Ausbildung einer organischen Erkrankung der Eingeweide
tritt der Kranke in eine Periode eines meist längeren, körperlichen Siech-
thums (mit Abmagerung, Verfärbung der Haut, grösserer Schwäche etc.),
und erliegt am Ende der Degeneration eines innern Organs. Zuweilen
stellen sich auch apoplectische, paralytische Zustände ein, oder es
bildet sich allmählig eine andere Form von Irresein, namentlich Ver-
rücktheit mit dem Character der Depression, aus.

Die Genesung kommt nicht ganz selten auf psychischem Wege
zu Stande, aber auch durch Beseitigung körperlicher Ursachen; auch
mit dem Auftreten von Gichtanfällen und Wechselfieber hat man ein
Aufhören der hypochondrischen Verstimmung beobachtet.

Beispiele einfacherer nnd complicirter Fälle von Hypochondrie
von verschiedener Entstehung, Aeusserungsweise und Ausgängen.

I) Einfachster Fall von Hypochondrie mit (psychischer) Heilung.
Mlle. H., 21 Jahre alt, von sehr starker Constitution, regelmässig, aber sparsam
menstruirt, an habitueller Obstipation leidend, verliert auf einmal ihre gewöhnliche
Heiterkeit, und zieht sich in völlige Einsamkeit zurück. Umsonst wird sie um die
Ursachen gefragt ein ganzes Jahr lang. Endlich gesteht die Kranke von selbst
unter Erröthen ihrem Arzte den Grund ihrer Traurigkeit; sie hat in der rechten
Hüfte beständig eine lästige Empfindung, auf welche ihre Gedanken anhaltend
gerichtet sind. In dieser Gegend findet sich bei der Untersuchung Nichts; die
Kranke äussert, unter vielen Thränen, bald werde sie sterben, sie fühle mit
Bestimmtheit wie ihre Eingeweide durch die halboffene Bauchdecke heraustreten
wollen. Der Arzt bekämpft diese Idee nicht direct, er erklärt, die Muskulatur
sei hier allerdings etwas gewichen, diess sei nichts seltenes, und es genüge

Verlauf und Ausgänge der Hypochondrie.
übertriebene geistige Anstrengung etc. erst Störungen der Verdauung,
der Circulation, der Secretionen hervorrufen, welche zur Quelle der
Krankheitsgefühle werden.

Hypochondrische Zustände kommen fast niemals in der Kindheit,
zuweilen aber schon in der Pubertäts-Periode vor. Sie sind bei
Männern häufiger als bei Weibern; doch kann man auch bei letzterem
Geschlecht nicht selten characteristische und weit gediehene Fälle
beobachten. — Der Verlauf ist im Allgemeinen sehr langwierig; doch
kommen Remissionen vor. Wir haben die Hypochondrie, wie die
intermittirende Manie, in fast regelmässigen Zeitepochen mit mehr-
jährigen freien Zwischenräumen auftreten sehen. Ein andermal haben
wir in einem schweren Fall (weiblichen Geschlechts) eine fast voll-
ständige Remission mit dem Eintritt einer spontanen heftigen, mit
Reissen in der ganzen Wirbelsäule verbundenen Diarrhoe beobachtet.

Während des sehr chronischen Verlaufs der Hypochondrie kann
die Ernährung und das Aussehen des Kranken oft lange gut bleiben;
mit der Ausbildung einer organischen Erkrankung der Eingeweide
tritt der Kranke in eine Periode eines meist längeren, körperlichen Siech-
thums (mit Abmagerung, Verfärbung der Haut, grösserer Schwäche etc.),
und erliegt am Ende der Degeneration eines innern Organs. Zuweilen
stellen sich auch apoplectische, paralytische Zustände ein, oder es
bildet sich allmählig eine andere Form von Irresein, namentlich Ver-
rücktheit mit dem Character der Depression, aus.

Die Genesung kommt nicht ganz selten auf psychischem Wege
zu Stande, aber auch durch Beseitigung körperlicher Ursachen; auch
mit dem Auftreten von Gichtanfällen und Wechselfieber hat man ein
Aufhören der hypochondrischen Verstimmung beobachtet.

Beispiele einfacherer nnd complicirter Fälle von Hypochondrie
von verschiedener Entstehung, Aeusserungsweise und Ausgängen.

I) Einfachster Fall von Hypochondrie mit (psychischer) Heilung.
Mlle. H., 21 Jahre alt, von sehr starker Constitution, regelmässig, aber sparsam
menstruirt, an habitueller Obstipation leidend, verliert auf einmal ihre gewöhnliche
Heiterkeit, und zieht sich in völlige Einsamkeit zurück. Umsonst wird sie um die
Ursachen gefragt ein ganzes Jahr lang. Endlich gesteht die Kranke von selbst
unter Erröthen ihrem Arzte den Grund ihrer Traurigkeit; sie hat in der rechten
Hüfte beständig eine lästige Empfindung, auf welche ihre Gedanken anhaltend
gerichtet sind. In dieser Gegend findet sich bei der Untersuchung Nichts; die
Kranke äussert, unter vielen Thränen, bald werde sie sterben, sie fühle mit
Bestimmtheit wie ihre Eingeweide durch die halboffene Bauchdecke heraustreten
wollen. Der Arzt bekämpft diese Idee nicht direct, er erklärt, die Muskulatur
sei hier allerdings etwas gewichen, diess sei nichts seltenes, und es genüge

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[160/0174] Verlauf und Ausgänge der Hypochondrie. übertriebene geistige Anstrengung etc. erst Störungen der Verdauung, der Circulation, der Secretionen hervorrufen, welche zur Quelle der Krankheitsgefühle werden. Hypochondrische Zustände kommen fast niemals in der Kindheit, zuweilen aber schon in der Pubertäts-Periode vor. Sie sind bei Männern häufiger als bei Weibern; doch kann man auch bei letzterem Geschlecht nicht selten characteristische und weit gediehene Fälle beobachten. — Der Verlauf ist im Allgemeinen sehr langwierig; doch kommen Remissionen vor. Wir haben die Hypochondrie, wie die intermittirende Manie, in fast regelmässigen Zeitepochen mit mehr- jährigen freien Zwischenräumen auftreten sehen. Ein andermal haben wir in einem schweren Fall (weiblichen Geschlechts) eine fast voll- ständige Remission mit dem Eintritt einer spontanen heftigen, mit Reissen in der ganzen Wirbelsäule verbundenen Diarrhoe beobachtet. Während des sehr chronischen Verlaufs der Hypochondrie kann die Ernährung und das Aussehen des Kranken oft lange gut bleiben; mit der Ausbildung einer organischen Erkrankung der Eingeweide tritt der Kranke in eine Periode eines meist längeren, körperlichen Siech- thums (mit Abmagerung, Verfärbung der Haut, grösserer Schwäche etc.), und erliegt am Ende der Degeneration eines innern Organs. Zuweilen stellen sich auch apoplectische, paralytische Zustände ein, oder es bildet sich allmählig eine andere Form von Irresein, namentlich Ver- rücktheit mit dem Character der Depression, aus. Die Genesung kommt nicht ganz selten auf psychischem Wege zu Stande, aber auch durch Beseitigung körperlicher Ursachen; auch mit dem Auftreten von Gichtanfällen und Wechselfieber hat man ein Aufhören der hypochondrischen Verstimmung beobachtet. Beispiele einfacherer nnd complicirter Fälle von Hypochondrie von verschiedener Entstehung, Aeusserungsweise und Ausgängen. I) Einfachster Fall von Hypochondrie mit (psychischer) Heilung. Mlle. H., 21 Jahre alt, von sehr starker Constitution, regelmässig, aber sparsam menstruirt, an habitueller Obstipation leidend, verliert auf einmal ihre gewöhnliche Heiterkeit, und zieht sich in völlige Einsamkeit zurück. Umsonst wird sie um die Ursachen gefragt ein ganzes Jahr lang. Endlich gesteht die Kranke von selbst unter Erröthen ihrem Arzte den Grund ihrer Traurigkeit; sie hat in der rechten Hüfte beständig eine lästige Empfindung, auf welche ihre Gedanken anhaltend gerichtet sind. In dieser Gegend findet sich bei der Untersuchung Nichts; die Kranke äussert, unter vielen Thränen, bald werde sie sterben, sie fühle mit Bestimmtheit wie ihre Eingeweide durch die halboffene Bauchdecke heraustreten wollen. Der Arzt bekämpft diese Idee nicht direct, er erklärt, die Muskulatur sei hier allerdings etwas gewichen, diess sei nichts seltenes, und es genüge

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/174>, abgerufen am 08.05.2024.