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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Fünfter Abschnitt.
Ueber das Irresein als Ganzes.
§. 57.

Was über das Irresein als Ganzes, seinen Verlauf, seine En-
digungsweisen etc. zu sagen wäre, das kann sich -- bei der ausser-
ordentlichen Verschiedenheit der hier obwaltenden Verhältnisse --
nur aus dem Studium der Einzelformen ergeben. Dagegen scheint
uns das allgemeine Verständniss der psychischen Krankheitsprocesse
wesentlich gefördert zu werden durch Betrachtung ihrer Analogieen
mit einigen verwandten Zuständen, namentlich mit dem Traum und
dem febrilen Delirium. *)

Auf die grosse Aehnlichkeit des Irreseins mit Traumzu-
ständen
könnte uns schon die einfache und so sehr häufige Versicherung
der Genesenen hinleiten, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit jetzt
eben wie ein Traum, bald wie ein glücklicher, viel häufiger wie ein
schwerer und düsterer, vorkomme, dass Einzelnen auch während des
Irreseins ihr früheres, gesundes Leben nur den Eindruck vergangener
Träume gemacht habe. **)

Freilich fehlen bei den Geisteskranken die Hauptmerkmale des
Schlafs, das Verschlossensein der äussern Sinne, die Aufhebung des
Bewusstseins der Aussenwelt und des Willenseinflusses auf die Mus-
keln, welche wir gewohnt sind, als Bedingungen unserer Träume
anzusehen. Allein einerseits ist es bekannt, dass man um so eher
träumt, je unvollständiger eben der Schlaf ist, und dass es Schlaf-
zustände gibt, wo ein ziemlicher, ja ein dem wachen Verhalten fast
gleich kommender Einfluss auf die Muskeln möglich ist (Sprechen
im Schlaf, Kutschiren der schlafenden Postillons, Nachtwandler). An-
dererseits finden sich bei Geisteskranken sensitive und motorische
Zustände -- eben jene Mattigkeit der Sinneseindrücke, die nicht
mehr in der alten Weise zum Individuum gelangen (§. 44.), jene
Verminderung des Willenseinflusses auf die Muskeln, die sich in
grosser Trägheit der Bewegung, sogar in cataleptischem Beibehalten

*) Die Analogie des Irreseins mit den affectartigen Zuständen des gesunden
Lebens ist bereits zur Sprache gekommen; die Aehnlichkeit vieler geisteskranker
Zustände mit dem Rausch wird an mehren Stellen unten (bei der Manie und der
allgemeinen Paralyse) besprochen.
**) Erst neuerlich äusserte sich ein von Manie Genesener in dieser Weise
gegen uns.
Fünfter Abschnitt.
Ueber das Irresein als Ganzes.
§. 57.

Was über das Irresein als Ganzes, seinen Verlauf, seine En-
digungsweisen etc. zu sagen wäre, das kann sich — bei der ausser-
ordentlichen Verschiedenheit der hier obwaltenden Verhältnisse —
nur aus dem Studium der Einzelformen ergeben. Dagegen scheint
uns das allgemeine Verständniss der psychischen Krankheitsprocesse
wesentlich gefördert zu werden durch Betrachtung ihrer Analogieen
mit einigen verwandten Zuständen, namentlich mit dem Traum und
dem febrilen Delirium. *)

Auf die grosse Aehnlichkeit des Irreseins mit Traumzu-
ständen
könnte uns schon die einfache und so sehr häufige Versicherung
der Genesenen hinleiten, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit jetzt
eben wie ein Traum, bald wie ein glücklicher, viel häufiger wie ein
schwerer und düsterer, vorkomme, dass Einzelnen auch während des
Irreseins ihr früheres, gesundes Leben nur den Eindruck vergangener
Träume gemacht habe. **)

Freilich fehlen bei den Geisteskranken die Hauptmerkmale des
Schlafs, das Verschlossensein der äussern Sinne, die Aufhebung des
Bewusstseins der Aussenwelt und des Willenseinflusses auf die Mus-
keln, welche wir gewohnt sind, als Bedingungen unserer Träume
anzusehen. Allein einerseits ist es bekannt, dass man um so eher
träumt, je unvollständiger eben der Schlaf ist, und dass es Schlaf-
zustände gibt, wo ein ziemlicher, ja ein dem wachen Verhalten fast
gleich kommender Einfluss auf die Muskeln möglich ist (Sprechen
im Schlaf, Kutschiren der schlafenden Postillons, Nachtwandler). An-
dererseits finden sich bei Geisteskranken sensitive und motorische
Zustände — eben jene Mattigkeit der Sinneseindrücke, die nicht
mehr in der alten Weise zum Individuum gelangen (§. 44.), jene
Verminderung des Willenseinflusses auf die Muskeln, die sich in
grosser Trägheit der Bewegung, sogar in cataleptischem Beibehalten

*) Die Analogie des Irreseins mit den affectartigen Zuständen des gesunden
Lebens ist bereits zur Sprache gekommen; die Aehnlichkeit vieler geisteskranker
Zustände mit dem Rausch wird an mehren Stellen unten (bei der Manie und der
allgemeinen Paralyse) besprochen.
**) Erst neuerlich äusserte sich ein von Manie Genesener in dieser Weise
gegen uns.
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[87/0101] Fünfter Abschnitt. Ueber das Irresein als Ganzes. §. 57. Was über das Irresein als Ganzes, seinen Verlauf, seine En- digungsweisen etc. zu sagen wäre, das kann sich — bei der ausser- ordentlichen Verschiedenheit der hier obwaltenden Verhältnisse — nur aus dem Studium der Einzelformen ergeben. Dagegen scheint uns das allgemeine Verständniss der psychischen Krankheitsprocesse wesentlich gefördert zu werden durch Betrachtung ihrer Analogieen mit einigen verwandten Zuständen, namentlich mit dem Traum und dem febrilen Delirium. *) Auf die grosse Aehnlichkeit des Irreseins mit Traumzu- ständen könnte uns schon die einfache und so sehr häufige Versicherung der Genesenen hinleiten, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit jetzt eben wie ein Traum, bald wie ein glücklicher, viel häufiger wie ein schwerer und düsterer, vorkomme, dass Einzelnen auch während des Irreseins ihr früheres, gesundes Leben nur den Eindruck vergangener Träume gemacht habe. **) Freilich fehlen bei den Geisteskranken die Hauptmerkmale des Schlafs, das Verschlossensein der äussern Sinne, die Aufhebung des Bewusstseins der Aussenwelt und des Willenseinflusses auf die Mus- keln, welche wir gewohnt sind, als Bedingungen unserer Träume anzusehen. Allein einerseits ist es bekannt, dass man um so eher träumt, je unvollständiger eben der Schlaf ist, und dass es Schlaf- zustände gibt, wo ein ziemlicher, ja ein dem wachen Verhalten fast gleich kommender Einfluss auf die Muskeln möglich ist (Sprechen im Schlaf, Kutschiren der schlafenden Postillons, Nachtwandler). An- dererseits finden sich bei Geisteskranken sensitive und motorische Zustände — eben jene Mattigkeit der Sinneseindrücke, die nicht mehr in der alten Weise zum Individuum gelangen (§. 44.), jene Verminderung des Willenseinflusses auf die Muskeln, die sich in grosser Trägheit der Bewegung, sogar in cataleptischem Beibehalten *) Die Analogie des Irreseins mit den affectartigen Zuständen des gesunden Lebens ist bereits zur Sprache gekommen; die Aehnlichkeit vieler geisteskranker Zustände mit dem Rausch wird an mehren Stellen unten (bei der Manie und der allgemeinen Paralyse) besprochen. **) Erst neuerlich äusserte sich ein von Manie Genesener in dieser Weise gegen uns.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/101>, abgerufen am 09.11.2024.