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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Kunstwerke der Geschichte nicht von Bestand
sind. Die ewig ungleich gestellte Uhr der
Entwicklung: Bergson und Weininger mögen
sie gefeit haben gegen jene Versuchung flacher
zufriedener Lebensweisheit, wie sie eine auf
die mechanische Kontinuierlichkeit des Turm¬
baus zu Babel blind eingestellte Schar mittel¬
europäischer Literaten jahrzehntelang aus allen
Bahnhofsbüchereien gepredigt hat. Doch hüllt
sie sich auch nicht, trotz aller Bitternis des
Lebens, in die wohlanständig-blutleere Maske
der Resignation (dem blinden Dichter wollen
wir nicht damit zu nahe treten!): sie besitzt
eine herbe bewußte Art zu entsagen, weil
auch Schmerz und Leid letzten Grundes rätsel¬
haft bleiben. "Ich war sanft, wenn auch hart,
ich war lächelnd im Trauern." Gleich wie
bei Jean Moröas, dem stolzesten und einsam¬
sten Poeten unserer Zeit, stammt bei
Theophile von Bodisco die Versöhnlichkeit
einem grausamen Schicksal gegenüber aus
einem hohen Herzen. Wir möchten hoffen,
daß ihr Roman unter nachdenklichen fein¬
sinnigen Lesern viele Freunde finden wird
R. v. U. Se.

Paul Friedrich, Der Tod der Weltstadt.
Preis geh. 7,70 M. Reformverlag Futuria.
Berlin V 60. 19Z0.

Dies bedeutende, packende Epos ist ein
-- oft an Hamerling gemahnendes -- sozio¬
logisches Flugblatt eines wirklichen Dichters.
Friedrich sieht das heutige Berlin bei Tag
und bei Nacht; er fühlt dem Großstadtgeist
wie ein Seher tief ins Herz, und er schildert,
wie die seelisch-kulturelle Auflösung zum
Untergang führt; auf den Ruinen aber ersteht
ihm das Ideal der neuen Gartenstadt sittlich¬
schöpferischer deutscher Siedler. Eine Utopie
gewiß. Aber alle Symbole haben notwendig
etwas Utopisches. Dies ist das alte dichte¬
rische Begriffspaar: Babylon-Jerusalem, ganz
aus den Nöten und Anschauungen unserer
Zcitneugeborcn. Wir wünschen dieser Berliner
Diving, ociwmkäiÄ Beachtung bei reifen Lesern.

Eden Phillpotts, T'lie Lor-e Venus.
"Tauchnitz Edition." Leipzig. 1921.
Bernhard Tauchnitz. Geh. M. 7.60, geb.
M. 16,-.

Ein in Ramanform gebrachter lustiger
Schwank, der geradezu zur Dramatisierung

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herausfordert, flott und keck geschrieben, mit
allen den UnWahrscheinlichkeiten, die auch
den Schwanken für gewöhnlich ankleben,
aber ohne jede Lüsternheit geschrieben, mit
einem kleinen Hieb auf die Bestrebungen
der Engländer, auf jeden Fall in den Reihen
der Aristokratie aufgenommen zu werden,
nicht ohne Vertiefung, also Wohl geeignet,
a. ein Paar müßige Stunden zu erheitern,

Marie Hay, Aas' ^.niello. Tauchnitz Edition.
Vol. 4644. Verlag von Bernhard Tauchnitz
in Leipzig. 1921. Geh. M. 7.60, in
Pavpb. M. 12.60, in Leinen M. 16.--.

Ein historischer Roman, der die bekannte
Begebenheit des Aufruhrs in Neapel 1647,
als das Volk sich dort unter der Führung
des tatkräftigen Fischers Thomas Aniello zum
Aufruhr gegen den spanischen Vizekönig er¬
hob, zum Gegenstand hat. Der durch Gift
zum Wahnsinn und dadurch zum Untergang
gebrachte Held wird in einer gewissen Ver¬
klärung gezeigt. Einzelne Figuren aus der
aristokratischen Gruppe fallen durch feine
Charakterzeichnung auf. Gründliche histo¬
rische Studien bilden die Basis des gewandt
a. geschriebenen anziehenden Buches. '

Vernon Lee, ?ne Sentimental Travellei-.
Tauchnitz Edition. Vol. 4645. Verlag
von Bernhard Tauchnitz, Leipzig. 192l.
Geh. M. 7 60, in Pappb. M. 12.60, in
Leinen M. 16.--.

Ein reizendes Damenbuch, dieser"empfind-
same Reisende", voll zarter Poesie und feiner
Beobachtung des xenius loci. Nichts Ge¬
lehrtes; die Empfindsamkeit überwiegt, aber
die stille Ruhe der von der Verfasserin mit
Vorliebe aufgesuchten Stätten in Frankreich,
Deutschland und Italien beruhigt seltsam in
unserer an schrecklichen Aufregungen so reichen
Zeit. Bei der Rheinfahrt empfindet sie, daß
"man in die Tiefe Deutschlands und in das
deutsche Herz eindringt; denn es scheint ein
Zufall zu sein, daß der Rhein ein Grenz¬
fluß ist, und jede Nation, außer der deut¬
schen, scheint unermeßlich weit entfernt zu
sein". In ähnlicher Weise weiß sie sich auch
in andere Länder einzufühlen. Die Skizzen
fesseln durch die unmittelbare Frische eines
zarten Gefühls, wie man es bei englischen
A. v. Autoren nicht immer findet.

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Kunstwerke der Geschichte nicht von Bestand
sind. Die ewig ungleich gestellte Uhr der
Entwicklung: Bergson und Weininger mögen
sie gefeit haben gegen jene Versuchung flacher
zufriedener Lebensweisheit, wie sie eine auf
die mechanische Kontinuierlichkeit des Turm¬
baus zu Babel blind eingestellte Schar mittel¬
europäischer Literaten jahrzehntelang aus allen
Bahnhofsbüchereien gepredigt hat. Doch hüllt
sie sich auch nicht, trotz aller Bitternis des
Lebens, in die wohlanständig-blutleere Maske
der Resignation (dem blinden Dichter wollen
wir nicht damit zu nahe treten!): sie besitzt
eine herbe bewußte Art zu entsagen, weil
auch Schmerz und Leid letzten Grundes rätsel¬
haft bleiben. „Ich war sanft, wenn auch hart,
ich war lächelnd im Trauern." Gleich wie
bei Jean Moröas, dem stolzesten und einsam¬
sten Poeten unserer Zeit, stammt bei
Theophile von Bodisco die Versöhnlichkeit
einem grausamen Schicksal gegenüber aus
einem hohen Herzen. Wir möchten hoffen,
daß ihr Roman unter nachdenklichen fein¬
sinnigen Lesern viele Freunde finden wird
R. v. U. Se.

Paul Friedrich, Der Tod der Weltstadt.
Preis geh. 7,70 M. Reformverlag Futuria.
Berlin V 60. 19Z0.

Dies bedeutende, packende Epos ist ein
— oft an Hamerling gemahnendes — sozio¬
logisches Flugblatt eines wirklichen Dichters.
Friedrich sieht das heutige Berlin bei Tag
und bei Nacht; er fühlt dem Großstadtgeist
wie ein Seher tief ins Herz, und er schildert,
wie die seelisch-kulturelle Auflösung zum
Untergang führt; auf den Ruinen aber ersteht
ihm das Ideal der neuen Gartenstadt sittlich¬
schöpferischer deutscher Siedler. Eine Utopie
gewiß. Aber alle Symbole haben notwendig
etwas Utopisches. Dies ist das alte dichte¬
rische Begriffspaar: Babylon-Jerusalem, ganz
aus den Nöten und Anschauungen unserer
Zcitneugeborcn. Wir wünschen dieser Berliner
Diving, ociwmkäiÄ Beachtung bei reifen Lesern.

Eden Phillpotts, T'lie Lor-e Venus.
„Tauchnitz Edition." Leipzig. 1921.
Bernhard Tauchnitz. Geh. M. 7.60, geb.
M. 16,-.

Ein in Ramanform gebrachter lustiger
Schwank, der geradezu zur Dramatisierung

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herausfordert, flott und keck geschrieben, mit
allen den UnWahrscheinlichkeiten, die auch
den Schwanken für gewöhnlich ankleben,
aber ohne jede Lüsternheit geschrieben, mit
einem kleinen Hieb auf die Bestrebungen
der Engländer, auf jeden Fall in den Reihen
der Aristokratie aufgenommen zu werden,
nicht ohne Vertiefung, also Wohl geeignet,
a. ein Paar müßige Stunden zu erheitern,

Marie Hay, Aas' ^.niello. Tauchnitz Edition.
Vol. 4644. Verlag von Bernhard Tauchnitz
in Leipzig. 1921. Geh. M. 7.60, in
Pavpb. M. 12.60, in Leinen M. 16.—.

Ein historischer Roman, der die bekannte
Begebenheit des Aufruhrs in Neapel 1647,
als das Volk sich dort unter der Führung
des tatkräftigen Fischers Thomas Aniello zum
Aufruhr gegen den spanischen Vizekönig er¬
hob, zum Gegenstand hat. Der durch Gift
zum Wahnsinn und dadurch zum Untergang
gebrachte Held wird in einer gewissen Ver¬
klärung gezeigt. Einzelne Figuren aus der
aristokratischen Gruppe fallen durch feine
Charakterzeichnung auf. Gründliche histo¬
rische Studien bilden die Basis des gewandt
a. geschriebenen anziehenden Buches. '

Vernon Lee, ?ne Sentimental Travellei-.
Tauchnitz Edition. Vol. 4645. Verlag
von Bernhard Tauchnitz, Leipzig. 192l.
Geh. M. 7 60, in Pappb. M. 12.60, in
Leinen M. 16.—.

Ein reizendes Damenbuch, dieser„empfind-
same Reisende", voll zarter Poesie und feiner
Beobachtung des xenius loci. Nichts Ge¬
lehrtes; die Empfindsamkeit überwiegt, aber
die stille Ruhe der von der Verfasserin mit
Vorliebe aufgesuchten Stätten in Frankreich,
Deutschland und Italien beruhigt seltsam in
unserer an schrecklichen Aufregungen so reichen
Zeit. Bei der Rheinfahrt empfindet sie, daß
„man in die Tiefe Deutschlands und in das
deutsche Herz eindringt; denn es scheint ein
Zufall zu sein, daß der Rhein ein Grenz¬
fluß ist, und jede Nation, außer der deut¬
schen, scheint unermeßlich weit entfernt zu
sein". In ähnlicher Weise weiß sie sich auch
in andere Länder einzufühlen. Die Skizzen
fesseln durch die unmittelbare Frische eines
zarten Gefühls, wie man es bei englischen
A. v. Autoren nicht immer findet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/333>, abgerufen am 24.07.2024.