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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Dantes Weltanschauung und das zwanzigste Jahrhundert

Der dritte Typus ist der theoretische Materialismus eines Häckel oder Marx; er
ist eine wirkliche Weltanschauung, verkennt aber merkwürdigerweise, daß sein
eigenes Subjekt ein wahrheils- oder kultursuchender Geist ist und vergafft sich
ausschließlich in sein Objekt, die Materie. Die vierte Haltung endlich ist gar
keine eigentliche Weltanschauung mehr, sondern ein weltanschauungsloser praktischer
Materialismus, eine nackte Hinwendung des Individuums zu egoistischen Trieb¬
zielen, den drei "Bestien" der Sinnenlust, Machtgier und Erwerbsgier, die nach
Dante den Menschen in dem lichtlosen Dickicht des weltanschauungZlosen Lebens
überwältigen.

Wir haben nun im neunzehnten Jahrhundert ein entschiedenes Übermaß
der beiden Formen des Materialismus erlebt. Der praktische, naive Materialismus,
der zu allen Zeiten sich durchsetzen will, hatte zuviel Anlehnung an dem theore¬
tischen Materialismus, der einerseits durch seine wissenschaftlichen Erfolge, anderer¬
seits durch den Zusammenbruch der beiden großen spiritualistischen Welt¬
anschauungen sich als Alleinherrscher fühlen wollte. Heute aber ist der Rausch
des Materialismus schon vorüber. Der wissenschaftliche Materialismus ist in
eine Sackgasse geraten, aus welcher er nicht mehr herauskann, und überall rufen
heute die spezialisierten Einzelwissenschaften selbst nach einer neuen universalen
Konzentration, nach Grundsätzen, die nur der Spiritualismus bieten kann. Es
darf ruhig und bestimmt ausgesprochen werden, daß heute die wissenschaftliche
Zukunft gerade auch der Einzelwissenschaften, sogar solcher, von denen man es
am wenigsten erwarten sollte, wie der Naturwissenschaften, von der Erneuerung
eines wissenschaftlichen Spiritualismus abhängt, der bereits bei den führenden
Geistern auf allen Fachgebieten sich ankündigt. Noch ist das Chaos groß, und
die Arbeit von Generationen wird nötig sein, bis das, was Kant und Hegel ver¬
früht versucht haben, nämlich die Erneuerung eines idealistischen Weltsystems auf
moderner Grundlage, sich zu einem festen, tragfähigen Gerüst wissenschaftlicher
Weltanschauung verdichtet habe. Der Anteil unseres Vaterlandes an dieser
größten wissenschaftlichen Aufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts kündigt sich schon
heute an und wir dürfen hoffen, daß der deutsche Geist berufen ist, dem wissen¬
schaftlichen Spiritualismus die Wege zu bahnen.

Wohin uns aber der praktische Materialismus geführt hat, das er-
kennen wir alle so klar, daß es Wohl niemand gibt, der dies anwachsende Inferno
nicht gern mit einer anderen Gesinnung in unserem Volk und in allen Völkern
vertauscht sehen möchte. Bricht aber der weltanschauliche Materialismus zusammen,
so wird auch der Katzenjammer des praktischen Materialismus, in dem wir heute noch
fast hilflos stehen, einer neuen Gesundung weichen. Denn dann wird wieder die
Autorität erstehen, die Dante an drei Stellen der Commedia vorherverkündet, der
Zwingherr zum Guten, der den unmündigen Seelen die Zügel des Gesetzes
anlegt, die ersehnte Obrigkeit, die "erkennt, wo die Türme der wahren Stadt",
des Gottesreiches oder der echten Kultur "ragen", die reformiert und durchgreift.


IV.

An diese Entwicklung zu einem neuen Spiritualismus muß man glauben,
wenn man überhaupt an eine Höherenentwicklung der Menschheit glauben und
an ihr mitarbeiten will, was des Menschen Pflicht und der Weg zu des Menschen


Dantes Weltanschauung und das zwanzigste Jahrhundert

Der dritte Typus ist der theoretische Materialismus eines Häckel oder Marx; er
ist eine wirkliche Weltanschauung, verkennt aber merkwürdigerweise, daß sein
eigenes Subjekt ein wahrheils- oder kultursuchender Geist ist und vergafft sich
ausschließlich in sein Objekt, die Materie. Die vierte Haltung endlich ist gar
keine eigentliche Weltanschauung mehr, sondern ein weltanschauungsloser praktischer
Materialismus, eine nackte Hinwendung des Individuums zu egoistischen Trieb¬
zielen, den drei „Bestien" der Sinnenlust, Machtgier und Erwerbsgier, die nach
Dante den Menschen in dem lichtlosen Dickicht des weltanschauungZlosen Lebens
überwältigen.

Wir haben nun im neunzehnten Jahrhundert ein entschiedenes Übermaß
der beiden Formen des Materialismus erlebt. Der praktische, naive Materialismus,
der zu allen Zeiten sich durchsetzen will, hatte zuviel Anlehnung an dem theore¬
tischen Materialismus, der einerseits durch seine wissenschaftlichen Erfolge, anderer¬
seits durch den Zusammenbruch der beiden großen spiritualistischen Welt¬
anschauungen sich als Alleinherrscher fühlen wollte. Heute aber ist der Rausch
des Materialismus schon vorüber. Der wissenschaftliche Materialismus ist in
eine Sackgasse geraten, aus welcher er nicht mehr herauskann, und überall rufen
heute die spezialisierten Einzelwissenschaften selbst nach einer neuen universalen
Konzentration, nach Grundsätzen, die nur der Spiritualismus bieten kann. Es
darf ruhig und bestimmt ausgesprochen werden, daß heute die wissenschaftliche
Zukunft gerade auch der Einzelwissenschaften, sogar solcher, von denen man es
am wenigsten erwarten sollte, wie der Naturwissenschaften, von der Erneuerung
eines wissenschaftlichen Spiritualismus abhängt, der bereits bei den führenden
Geistern auf allen Fachgebieten sich ankündigt. Noch ist das Chaos groß, und
die Arbeit von Generationen wird nötig sein, bis das, was Kant und Hegel ver¬
früht versucht haben, nämlich die Erneuerung eines idealistischen Weltsystems auf
moderner Grundlage, sich zu einem festen, tragfähigen Gerüst wissenschaftlicher
Weltanschauung verdichtet habe. Der Anteil unseres Vaterlandes an dieser
größten wissenschaftlichen Aufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts kündigt sich schon
heute an und wir dürfen hoffen, daß der deutsche Geist berufen ist, dem wissen¬
schaftlichen Spiritualismus die Wege zu bahnen.

Wohin uns aber der praktische Materialismus geführt hat, das er-
kennen wir alle so klar, daß es Wohl niemand gibt, der dies anwachsende Inferno
nicht gern mit einer anderen Gesinnung in unserem Volk und in allen Völkern
vertauscht sehen möchte. Bricht aber der weltanschauliche Materialismus zusammen,
so wird auch der Katzenjammer des praktischen Materialismus, in dem wir heute noch
fast hilflos stehen, einer neuen Gesundung weichen. Denn dann wird wieder die
Autorität erstehen, die Dante an drei Stellen der Commedia vorherverkündet, der
Zwingherr zum Guten, der den unmündigen Seelen die Zügel des Gesetzes
anlegt, die ersehnte Obrigkeit, die „erkennt, wo die Türme der wahren Stadt",
des Gottesreiches oder der echten Kultur „ragen", die reformiert und durchgreift.


IV.

An diese Entwicklung zu einem neuen Spiritualismus muß man glauben,
wenn man überhaupt an eine Höherenentwicklung der Menschheit glauben und
an ihr mitarbeiten will, was des Menschen Pflicht und der Weg zu des Menschen


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[0318] Dantes Weltanschauung und das zwanzigste Jahrhundert Der dritte Typus ist der theoretische Materialismus eines Häckel oder Marx; er ist eine wirkliche Weltanschauung, verkennt aber merkwürdigerweise, daß sein eigenes Subjekt ein wahrheils- oder kultursuchender Geist ist und vergafft sich ausschließlich in sein Objekt, die Materie. Die vierte Haltung endlich ist gar keine eigentliche Weltanschauung mehr, sondern ein weltanschauungsloser praktischer Materialismus, eine nackte Hinwendung des Individuums zu egoistischen Trieb¬ zielen, den drei „Bestien" der Sinnenlust, Machtgier und Erwerbsgier, die nach Dante den Menschen in dem lichtlosen Dickicht des weltanschauungZlosen Lebens überwältigen. Wir haben nun im neunzehnten Jahrhundert ein entschiedenes Übermaß der beiden Formen des Materialismus erlebt. Der praktische, naive Materialismus, der zu allen Zeiten sich durchsetzen will, hatte zuviel Anlehnung an dem theore¬ tischen Materialismus, der einerseits durch seine wissenschaftlichen Erfolge, anderer¬ seits durch den Zusammenbruch der beiden großen spiritualistischen Welt¬ anschauungen sich als Alleinherrscher fühlen wollte. Heute aber ist der Rausch des Materialismus schon vorüber. Der wissenschaftliche Materialismus ist in eine Sackgasse geraten, aus welcher er nicht mehr herauskann, und überall rufen heute die spezialisierten Einzelwissenschaften selbst nach einer neuen universalen Konzentration, nach Grundsätzen, die nur der Spiritualismus bieten kann. Es darf ruhig und bestimmt ausgesprochen werden, daß heute die wissenschaftliche Zukunft gerade auch der Einzelwissenschaften, sogar solcher, von denen man es am wenigsten erwarten sollte, wie der Naturwissenschaften, von der Erneuerung eines wissenschaftlichen Spiritualismus abhängt, der bereits bei den führenden Geistern auf allen Fachgebieten sich ankündigt. Noch ist das Chaos groß, und die Arbeit von Generationen wird nötig sein, bis das, was Kant und Hegel ver¬ früht versucht haben, nämlich die Erneuerung eines idealistischen Weltsystems auf moderner Grundlage, sich zu einem festen, tragfähigen Gerüst wissenschaftlicher Weltanschauung verdichtet habe. Der Anteil unseres Vaterlandes an dieser größten wissenschaftlichen Aufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts kündigt sich schon heute an und wir dürfen hoffen, daß der deutsche Geist berufen ist, dem wissen¬ schaftlichen Spiritualismus die Wege zu bahnen. Wohin uns aber der praktische Materialismus geführt hat, das er- kennen wir alle so klar, daß es Wohl niemand gibt, der dies anwachsende Inferno nicht gern mit einer anderen Gesinnung in unserem Volk und in allen Völkern vertauscht sehen möchte. Bricht aber der weltanschauliche Materialismus zusammen, so wird auch der Katzenjammer des praktischen Materialismus, in dem wir heute noch fast hilflos stehen, einer neuen Gesundung weichen. Denn dann wird wieder die Autorität erstehen, die Dante an drei Stellen der Commedia vorherverkündet, der Zwingherr zum Guten, der den unmündigen Seelen die Zügel des Gesetzes anlegt, die ersehnte Obrigkeit, die „erkennt, wo die Türme der wahren Stadt", des Gottesreiches oder der echten Kultur „ragen", die reformiert und durchgreift. IV. An diese Entwicklung zu einem neuen Spiritualismus muß man glauben, wenn man überhaupt an eine Höherenentwicklung der Menschheit glauben und an ihr mitarbeiten will, was des Menschen Pflicht und der Weg zu des Menschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/318>, abgerufen am 22.12.2024.