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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Frankreichs Militärpolitik und Europas Freiheit

schung Europas in den Vordergrund, die dann durch den Gedanken der Welt¬
herrschaft erweitert wurde, zu der der Weg über die Unterwerfung Englands
führte. Nach Napoleons Sturz nahm schon 1823 Chateaubriand den publizisti¬
schen Kampf für die Eroberung der Rheinlinie wieder auf. In einem 1829 dem
Conseil unterbreiteten Gutachten des Ministeriums Polignac wurde, ganz wie in
unseren Tagen, die Bildung eines autonomen Staates als französischer Schutzstaat
aus den linksrheinischen Besitzungen Preußens ins Auge gefaßt und es heißt in
dem Gutachten bezeichnend: "In der Politik der französischen Könige hat immer
der Gedanke eine Rolle gespielt, in Europa die Existenz von Staaten zweiten
Ranges aufrecht zu erhalten," Und Napoleon III, prägte die Forderung der
xueponcteranLe legitime". Legitime, gutes Recht, war für Frankreich stets das
Streben nach Macht und Vorherrschaft in Europa, Frankreichs Wille soll gelten,
und wer sich ihm nicht unterwirft, der gefährdet den Frieden Europas und
der Welt.

Diesen Überlieferungen getreu hat Briand in seiner Rede vom 11. Juli mit
Bezug auf die Beziehungen zu den Bundesgenossen Frankreichs gesagt: "An dem
Tage, wo die Forderung der Einmütigkeit der Verbündeten den Lebensinteressen
der französischen Nation und dem vornehmsten Interesse, seiner Sicherheit, zu-
widerlaufen sollte, an diesem Tage wäre keine Einmütigkeit (mit den Verbündeten)
mehr möglich."

Es bedarf keiner weiteren Beweise: Unter dem Vorwand, von Deutschland
bedroht zu sein, will Frankreich sich militärisch stark erhalten, um Deutschland zu
unterdrücken, die Vorherrschaft in Europa zu behaupten und, wenn die Verbün¬
deten, insbesondere England, ihm in dieser Politik nicht freie Hand lassen, eine von
ihnen unabhängige Politik zu führen.

Das französische militär-politische System stützt sich auf das Bündnis mit
Belgien und Polen. Frankreich und Belgien unterhalten in Zukunft zusammen
ein Friedensheer von rund 900 000 Mann, Polen hat rund 600 000 Soldaten.
Frankreich und Polen sind die stärksten Militärmächte der Erde. Japan und Eng¬
land folgen mit 300000 und 294 000 Mann in weitem Abstand. Selbst Ruszlaud
ist Polen zurzeit nicht überlegen. Das französisch-belgische Bündnis hat nach den
Angaben der französischen und belgischen Regierungen das Ziel der Sicherung
gegen einen Angriff Deutschlands. Also einv Streitmacht von vielfacher Über¬
legenheit, die bei einer Mobilmachung sofort auf 4 Millionen Streiter gebracht
werden kaun, für die Waffen und Ausrüstung in reichstem Maße vorhanden sind,
gegen ein Heer von 100 000 Mann, das allein schon dem belgischen Friedensheer
von 113 000 Mann unterlegen ist, aller modernen Waffen entbehrt, keine Reser¬
ven an Waffen und Ausrüstung besitzt und im Osten von 600000 Polen be¬
droht ist.

Das ist doch offenbar eine unmögliche Begründung für so gewaltige
Rüstungen!

Aber der französisch-belgisch-polnische Militarismus will sich ja auch gar
nicht gegen Deutschland sichern -- von dort droht keine Gefahr -- er will Frank¬
reichs Vorherrschaft in Europa auch gegen jede denkbare Koalition behaupten.
Italien mit seinem Friedensheer von 220 000 Mann soll nicht zur eigenen Macht¬
politik kommen, die kleine Entente mit einem Friedensheer von rund 590 000


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Frankreichs Militärpolitik und Europas Freiheit

schung Europas in den Vordergrund, die dann durch den Gedanken der Welt¬
herrschaft erweitert wurde, zu der der Weg über die Unterwerfung Englands
führte. Nach Napoleons Sturz nahm schon 1823 Chateaubriand den publizisti¬
schen Kampf für die Eroberung der Rheinlinie wieder auf. In einem 1829 dem
Conseil unterbreiteten Gutachten des Ministeriums Polignac wurde, ganz wie in
unseren Tagen, die Bildung eines autonomen Staates als französischer Schutzstaat
aus den linksrheinischen Besitzungen Preußens ins Auge gefaßt und es heißt in
dem Gutachten bezeichnend: „In der Politik der französischen Könige hat immer
der Gedanke eine Rolle gespielt, in Europa die Existenz von Staaten zweiten
Ranges aufrecht zu erhalten," Und Napoleon III, prägte die Forderung der
xueponcteranLe legitime". Legitime, gutes Recht, war für Frankreich stets das
Streben nach Macht und Vorherrschaft in Europa, Frankreichs Wille soll gelten,
und wer sich ihm nicht unterwirft, der gefährdet den Frieden Europas und
der Welt.

Diesen Überlieferungen getreu hat Briand in seiner Rede vom 11. Juli mit
Bezug auf die Beziehungen zu den Bundesgenossen Frankreichs gesagt: „An dem
Tage, wo die Forderung der Einmütigkeit der Verbündeten den Lebensinteressen
der französischen Nation und dem vornehmsten Interesse, seiner Sicherheit, zu-
widerlaufen sollte, an diesem Tage wäre keine Einmütigkeit (mit den Verbündeten)
mehr möglich."

Es bedarf keiner weiteren Beweise: Unter dem Vorwand, von Deutschland
bedroht zu sein, will Frankreich sich militärisch stark erhalten, um Deutschland zu
unterdrücken, die Vorherrschaft in Europa zu behaupten und, wenn die Verbün¬
deten, insbesondere England, ihm in dieser Politik nicht freie Hand lassen, eine von
ihnen unabhängige Politik zu führen.

Das französische militär-politische System stützt sich auf das Bündnis mit
Belgien und Polen. Frankreich und Belgien unterhalten in Zukunft zusammen
ein Friedensheer von rund 900 000 Mann, Polen hat rund 600 000 Soldaten.
Frankreich und Polen sind die stärksten Militärmächte der Erde. Japan und Eng¬
land folgen mit 300000 und 294 000 Mann in weitem Abstand. Selbst Ruszlaud
ist Polen zurzeit nicht überlegen. Das französisch-belgische Bündnis hat nach den
Angaben der französischen und belgischen Regierungen das Ziel der Sicherung
gegen einen Angriff Deutschlands. Also einv Streitmacht von vielfacher Über¬
legenheit, die bei einer Mobilmachung sofort auf 4 Millionen Streiter gebracht
werden kaun, für die Waffen und Ausrüstung in reichstem Maße vorhanden sind,
gegen ein Heer von 100 000 Mann, das allein schon dem belgischen Friedensheer
von 113 000 Mann unterlegen ist, aller modernen Waffen entbehrt, keine Reser¬
ven an Waffen und Ausrüstung besitzt und im Osten von 600000 Polen be¬
droht ist.

Das ist doch offenbar eine unmögliche Begründung für so gewaltige
Rüstungen!

Aber der französisch-belgisch-polnische Militarismus will sich ja auch gar
nicht gegen Deutschland sichern — von dort droht keine Gefahr — er will Frank¬
reichs Vorherrschaft in Europa auch gegen jede denkbare Koalition behaupten.
Italien mit seinem Friedensheer von 220 000 Mann soll nicht zur eigenen Macht¬
politik kommen, die kleine Entente mit einem Friedensheer von rund 590 000


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[0177] Frankreichs Militärpolitik und Europas Freiheit schung Europas in den Vordergrund, die dann durch den Gedanken der Welt¬ herrschaft erweitert wurde, zu der der Weg über die Unterwerfung Englands führte. Nach Napoleons Sturz nahm schon 1823 Chateaubriand den publizisti¬ schen Kampf für die Eroberung der Rheinlinie wieder auf. In einem 1829 dem Conseil unterbreiteten Gutachten des Ministeriums Polignac wurde, ganz wie in unseren Tagen, die Bildung eines autonomen Staates als französischer Schutzstaat aus den linksrheinischen Besitzungen Preußens ins Auge gefaßt und es heißt in dem Gutachten bezeichnend: „In der Politik der französischen Könige hat immer der Gedanke eine Rolle gespielt, in Europa die Existenz von Staaten zweiten Ranges aufrecht zu erhalten," Und Napoleon III, prägte die Forderung der xueponcteranLe legitime". Legitime, gutes Recht, war für Frankreich stets das Streben nach Macht und Vorherrschaft in Europa, Frankreichs Wille soll gelten, und wer sich ihm nicht unterwirft, der gefährdet den Frieden Europas und der Welt. Diesen Überlieferungen getreu hat Briand in seiner Rede vom 11. Juli mit Bezug auf die Beziehungen zu den Bundesgenossen Frankreichs gesagt: „An dem Tage, wo die Forderung der Einmütigkeit der Verbündeten den Lebensinteressen der französischen Nation und dem vornehmsten Interesse, seiner Sicherheit, zu- widerlaufen sollte, an diesem Tage wäre keine Einmütigkeit (mit den Verbündeten) mehr möglich." Es bedarf keiner weiteren Beweise: Unter dem Vorwand, von Deutschland bedroht zu sein, will Frankreich sich militärisch stark erhalten, um Deutschland zu unterdrücken, die Vorherrschaft in Europa zu behaupten und, wenn die Verbün¬ deten, insbesondere England, ihm in dieser Politik nicht freie Hand lassen, eine von ihnen unabhängige Politik zu führen. Das französische militär-politische System stützt sich auf das Bündnis mit Belgien und Polen. Frankreich und Belgien unterhalten in Zukunft zusammen ein Friedensheer von rund 900 000 Mann, Polen hat rund 600 000 Soldaten. Frankreich und Polen sind die stärksten Militärmächte der Erde. Japan und Eng¬ land folgen mit 300000 und 294 000 Mann in weitem Abstand. Selbst Ruszlaud ist Polen zurzeit nicht überlegen. Das französisch-belgische Bündnis hat nach den Angaben der französischen und belgischen Regierungen das Ziel der Sicherung gegen einen Angriff Deutschlands. Also einv Streitmacht von vielfacher Über¬ legenheit, die bei einer Mobilmachung sofort auf 4 Millionen Streiter gebracht werden kaun, für die Waffen und Ausrüstung in reichstem Maße vorhanden sind, gegen ein Heer von 100 000 Mann, das allein schon dem belgischen Friedensheer von 113 000 Mann unterlegen ist, aller modernen Waffen entbehrt, keine Reser¬ ven an Waffen und Ausrüstung besitzt und im Osten von 600000 Polen be¬ droht ist. Das ist doch offenbar eine unmögliche Begründung für so gewaltige Rüstungen! Aber der französisch-belgisch-polnische Militarismus will sich ja auch gar nicht gegen Deutschland sichern — von dort droht keine Gefahr — er will Frank¬ reichs Vorherrschaft in Europa auch gegen jede denkbare Koalition behaupten. Italien mit seinem Friedensheer von 220 000 Mann soll nicht zur eigenen Macht¬ politik kommen, die kleine Entente mit einem Friedensheer von rund 590 000 11»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/177>, abgerufen am 23.12.2024.