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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Federstriche

Mordtaten der Osterzeit 1921 gegeben, diese guten Vorsätze wahr zu machen!
Statt dessen erfüllt der Staat trotz aller Steuern nicht mehr seine primitivste
Aufgabe, Leben und Eigentum seiner Bürger zu schützen, die vielmehr diese Auf¬
gabe in den Einwohnerwehren selbst übernehmen mußten und nun darüber nach¬
denken, welche Existenzberechtigung dieser Staat denn eigentlich noch hat.

Artikel 109 Absatz 1 spricht es aus, daß "alle Deutschen vor dem Gesetze
gleich sind". Hierbei kommt mir das Gesetz über die durch innere Unruhen ver¬
ursachten Schäden vom 12. Mai 1920 in den Sinn. Dieses gewährt in Z 1
Ersatzansprüche gegen das Reich wegen der durch Tumulte an Eigentum sowie
an Leib und Leben angerichteten Schäden. Wer nun meint, daß vor diesem
Gesetze alle gleich sind, der irrt sich. Denn Z 2 gibt Schadenersatzansprüche
nur, wenn und soweit ohne solche nach den Umständen das Fortkommen des
Betroffenen unbillig erschwert sein würde, wobei seine gesamten Vermögens- und
Erwerbsverhältnisse zu berücksichtigen sind. Also gerade diejenigen Teile der Be¬
völkerung, die niemals Subjekt, desto regelmäßiger aber Objekt des in Plünde¬
rungen und Gewalttätigkeiten sich bewährenden praktischen Kommunismus sind,
bleiben ohne jeden Schutz gegen die ihnen zugefügten Schäden, während die
anderen entschädigt werden sollen.

Artikel 109 Absatz 4 bestimmt, daß Titel nur verliehen werden sollen, wenn
sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen. Das Hamburgische Beamtenbesoldungs¬
gesetz vom 24. Juni 1920 hat die Bezeichnungen der Beamten neu geordnet; bei¬
spielsweise: was früher Gerichtsschreiber hieß, heißt jetzt "Justizobersekretär":
aus dem alten ehrlichen Gerichtsdiener ist ein (arg militaristischer) "Justizober¬
wachtmeister" geworden. Nun entscheide man, wer das Ziel der Verfassung, die
Beseitigung des Titelunwesens, besser erreicht hat: das fluchbeladene alte Regime
oder das republikanische neue Deutschland mit seinem gewaltigen Männerstolz vor
Königsthronen? Aber vielleicht wollte man durch diese Verleugnung der heiligsten
republikanischen Grundsätze die Segnungen der neuen Ära einleuchtender machen,
als es durch sonstige Leistungen möglich ist, die man kennt.

Artikel 116 proklamiert den hehren Grundsatz: "Die Wohnung jedes
Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich." Der deutsche Mann sagt
also stolz: "Mein Haus ist meine Burg", und schon kommt die Beschlagnahme
und Zwangseinquartierung etwa in Gestalt eines Bolschewismen mit sieben Kin¬
dern und der Schwiegermutter und gemeinsamer Küche. (Vgl. Hamb. Verord¬
nung vom 22. September 1920.)

Artikel 124: "Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die den Straf¬
gesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine und Gesellschaften zu bilden." Ob das
Verbat der Organisation Escherich auf diesen Artikel gestützt werden soll? Darüber
wissen wohl Herr Koch und Herr Hörsing die beste Auskunft zu geben."

Artikel 129: "Die wohlerworbenen Rechte der Beamten sind unverletzlich.
Wie verträgt sich damit die Zwangspensionierung mit dem 65. Lebensjahre von
solchen Beamten, die unter den früheren Pensivnsgesetzcn angestellt worden sind?
"

Artikel 130: "Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.
Wie konnte es da kommen, daß der Vorsitzende der Hamburgischen Oberschul¬
behörde, der doch zu den Beamten gehört, den Eltern im Interesse seiner Partei¬
ziele eine viel zu kurze Frist für die Erklärung setzte, ob sie ihre Kinder am
Religionsunterricht teilnehmen lassen wollten, und gleichzeitig durch seine Partei
ein Flugblatt gegen die Teilnahme an diesem Unterrichte verteilen ließ, ohne den
anderen Parteien Gelegenheit zu einer Gegenwirkung zu geben? Daß die Matz¬
nahme der Oberschulbeyörde außerdem noch gegen Artikel 149 der Verfassung
verstieß, hat ihr kürzlich das Reichsgericht bescheinigen müssen.

Und wie vertragen sich die bekannten Agitationsreisen und -reden der Mi¬
nister mit dieser Vorschrift?

Auch sehr schön sagt Artikel 21: "Die Abgeordneten sind Vertreter des
ganzen Volkes, nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden".
Ob dieser Artikel irgend welche Aussicht hin, jemals Wirklichkeit zu werden, ist


Federstriche

Mordtaten der Osterzeit 1921 gegeben, diese guten Vorsätze wahr zu machen!
Statt dessen erfüllt der Staat trotz aller Steuern nicht mehr seine primitivste
Aufgabe, Leben und Eigentum seiner Bürger zu schützen, die vielmehr diese Auf¬
gabe in den Einwohnerwehren selbst übernehmen mußten und nun darüber nach¬
denken, welche Existenzberechtigung dieser Staat denn eigentlich noch hat.

Artikel 109 Absatz 1 spricht es aus, daß „alle Deutschen vor dem Gesetze
gleich sind". Hierbei kommt mir das Gesetz über die durch innere Unruhen ver¬
ursachten Schäden vom 12. Mai 1920 in den Sinn. Dieses gewährt in Z 1
Ersatzansprüche gegen das Reich wegen der durch Tumulte an Eigentum sowie
an Leib und Leben angerichteten Schäden. Wer nun meint, daß vor diesem
Gesetze alle gleich sind, der irrt sich. Denn Z 2 gibt Schadenersatzansprüche
nur, wenn und soweit ohne solche nach den Umständen das Fortkommen des
Betroffenen unbillig erschwert sein würde, wobei seine gesamten Vermögens- und
Erwerbsverhältnisse zu berücksichtigen sind. Also gerade diejenigen Teile der Be¬
völkerung, die niemals Subjekt, desto regelmäßiger aber Objekt des in Plünde¬
rungen und Gewalttätigkeiten sich bewährenden praktischen Kommunismus sind,
bleiben ohne jeden Schutz gegen die ihnen zugefügten Schäden, während die
anderen entschädigt werden sollen.

Artikel 109 Absatz 4 bestimmt, daß Titel nur verliehen werden sollen, wenn
sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen. Das Hamburgische Beamtenbesoldungs¬
gesetz vom 24. Juni 1920 hat die Bezeichnungen der Beamten neu geordnet; bei¬
spielsweise: was früher Gerichtsschreiber hieß, heißt jetzt „Justizobersekretär":
aus dem alten ehrlichen Gerichtsdiener ist ein (arg militaristischer) „Justizober¬
wachtmeister" geworden. Nun entscheide man, wer das Ziel der Verfassung, die
Beseitigung des Titelunwesens, besser erreicht hat: das fluchbeladene alte Regime
oder das republikanische neue Deutschland mit seinem gewaltigen Männerstolz vor
Königsthronen? Aber vielleicht wollte man durch diese Verleugnung der heiligsten
republikanischen Grundsätze die Segnungen der neuen Ära einleuchtender machen,
als es durch sonstige Leistungen möglich ist, die man kennt.

Artikel 116 proklamiert den hehren Grundsatz: „Die Wohnung jedes
Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich." Der deutsche Mann sagt
also stolz: „Mein Haus ist meine Burg", und schon kommt die Beschlagnahme
und Zwangseinquartierung etwa in Gestalt eines Bolschewismen mit sieben Kin¬
dern und der Schwiegermutter und gemeinsamer Küche. (Vgl. Hamb. Verord¬
nung vom 22. September 1920.)

Artikel 124: „Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die den Straf¬
gesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine und Gesellschaften zu bilden." Ob das
Verbat der Organisation Escherich auf diesen Artikel gestützt werden soll? Darüber
wissen wohl Herr Koch und Herr Hörsing die beste Auskunft zu geben."

Artikel 129: „Die wohlerworbenen Rechte der Beamten sind unverletzlich.
Wie verträgt sich damit die Zwangspensionierung mit dem 65. Lebensjahre von
solchen Beamten, die unter den früheren Pensivnsgesetzcn angestellt worden sind?
"

Artikel 130: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.
Wie konnte es da kommen, daß der Vorsitzende der Hamburgischen Oberschul¬
behörde, der doch zu den Beamten gehört, den Eltern im Interesse seiner Partei¬
ziele eine viel zu kurze Frist für die Erklärung setzte, ob sie ihre Kinder am
Religionsunterricht teilnehmen lassen wollten, und gleichzeitig durch seine Partei
ein Flugblatt gegen die Teilnahme an diesem Unterrichte verteilen ließ, ohne den
anderen Parteien Gelegenheit zu einer Gegenwirkung zu geben? Daß die Matz¬
nahme der Oberschulbeyörde außerdem noch gegen Artikel 149 der Verfassung
verstieß, hat ihr kürzlich das Reichsgericht bescheinigen müssen.

Und wie vertragen sich die bekannten Agitationsreisen und -reden der Mi¬
nister mit dieser Vorschrift?

Auch sehr schön sagt Artikel 21: „Die Abgeordneten sind Vertreter des
ganzen Volkes, nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden".
Ob dieser Artikel irgend welche Aussicht hin, jemals Wirklichkeit zu werden, ist


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[0340] Federstriche Mordtaten der Osterzeit 1921 gegeben, diese guten Vorsätze wahr zu machen! Statt dessen erfüllt der Staat trotz aller Steuern nicht mehr seine primitivste Aufgabe, Leben und Eigentum seiner Bürger zu schützen, die vielmehr diese Auf¬ gabe in den Einwohnerwehren selbst übernehmen mußten und nun darüber nach¬ denken, welche Existenzberechtigung dieser Staat denn eigentlich noch hat. Artikel 109 Absatz 1 spricht es aus, daß „alle Deutschen vor dem Gesetze gleich sind". Hierbei kommt mir das Gesetz über die durch innere Unruhen ver¬ ursachten Schäden vom 12. Mai 1920 in den Sinn. Dieses gewährt in Z 1 Ersatzansprüche gegen das Reich wegen der durch Tumulte an Eigentum sowie an Leib und Leben angerichteten Schäden. Wer nun meint, daß vor diesem Gesetze alle gleich sind, der irrt sich. Denn Z 2 gibt Schadenersatzansprüche nur, wenn und soweit ohne solche nach den Umständen das Fortkommen des Betroffenen unbillig erschwert sein würde, wobei seine gesamten Vermögens- und Erwerbsverhältnisse zu berücksichtigen sind. Also gerade diejenigen Teile der Be¬ völkerung, die niemals Subjekt, desto regelmäßiger aber Objekt des in Plünde¬ rungen und Gewalttätigkeiten sich bewährenden praktischen Kommunismus sind, bleiben ohne jeden Schutz gegen die ihnen zugefügten Schäden, während die anderen entschädigt werden sollen. Artikel 109 Absatz 4 bestimmt, daß Titel nur verliehen werden sollen, wenn sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen. Das Hamburgische Beamtenbesoldungs¬ gesetz vom 24. Juni 1920 hat die Bezeichnungen der Beamten neu geordnet; bei¬ spielsweise: was früher Gerichtsschreiber hieß, heißt jetzt „Justizobersekretär": aus dem alten ehrlichen Gerichtsdiener ist ein (arg militaristischer) „Justizober¬ wachtmeister" geworden. Nun entscheide man, wer das Ziel der Verfassung, die Beseitigung des Titelunwesens, besser erreicht hat: das fluchbeladene alte Regime oder das republikanische neue Deutschland mit seinem gewaltigen Männerstolz vor Königsthronen? Aber vielleicht wollte man durch diese Verleugnung der heiligsten republikanischen Grundsätze die Segnungen der neuen Ära einleuchtender machen, als es durch sonstige Leistungen möglich ist, die man kennt. Artikel 116 proklamiert den hehren Grundsatz: „Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich." Der deutsche Mann sagt also stolz: „Mein Haus ist meine Burg", und schon kommt die Beschlagnahme und Zwangseinquartierung etwa in Gestalt eines Bolschewismen mit sieben Kin¬ dern und der Schwiegermutter und gemeinsamer Küche. (Vgl. Hamb. Verord¬ nung vom 22. September 1920.) Artikel 124: „Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die den Straf¬ gesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine und Gesellschaften zu bilden." Ob das Verbat der Organisation Escherich auf diesen Artikel gestützt werden soll? Darüber wissen wohl Herr Koch und Herr Hörsing die beste Auskunft zu geben." Artikel 129: „Die wohlerworbenen Rechte der Beamten sind unverletzlich. Wie verträgt sich damit die Zwangspensionierung mit dem 65. Lebensjahre von solchen Beamten, die unter den früheren Pensivnsgesetzcn angestellt worden sind? " Artikel 130: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei. Wie konnte es da kommen, daß der Vorsitzende der Hamburgischen Oberschul¬ behörde, der doch zu den Beamten gehört, den Eltern im Interesse seiner Partei¬ ziele eine viel zu kurze Frist für die Erklärung setzte, ob sie ihre Kinder am Religionsunterricht teilnehmen lassen wollten, und gleichzeitig durch seine Partei ein Flugblatt gegen die Teilnahme an diesem Unterrichte verteilen ließ, ohne den anderen Parteien Gelegenheit zu einer Gegenwirkung zu geben? Daß die Matz¬ nahme der Oberschulbeyörde außerdem noch gegen Artikel 149 der Verfassung verstieß, hat ihr kürzlich das Reichsgericht bescheinigen müssen. Und wie vertragen sich die bekannten Agitationsreisen und -reden der Mi¬ nister mit dieser Vorschrift? Auch sehr schön sagt Artikel 21: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden". Ob dieser Artikel irgend welche Aussicht hin, jemals Wirklichkeit zu werden, ist

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/340>, abgerufen am 23.11.2024.