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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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denen sich dann, um bei der neuen Kabinettsbildung nicht ausgeschaltet zu werden,
trotz der Vatikanregelung auch die durch ihre Stimmenzahl ausschlaggebende
Partei der IZntente repudlicaine-clemoLratique angeschlossen hätte, gestürzt wurde.
Dann aber blieb dem neuen Ministerpräsidenten, mochte er nun, wie allgemein
angenommen wurde, Poincars oder, wie einige wollten, Clemenceau heißen, gar
nichts anderes übrig als eben das zu tun, was unterlassen zu haben die Kammer
seinem Vorgänger vorgeworfen hatte: die mobilisierte Jahresklasse l9 in Deutschland
einrücken zu lassen. Diese Gefahr galt es abzuwenden. Lloyd George tat es. indem
er die französische Negierung in einer scheinbar ganz anderen Angelegenheit mit
ungewöhnlicher Schärfe angriff. Damit die Sache grosz genug aufgemacht werden
konnte, antwortete Briand sofort, um sich alsbald neue Diatriben zuzuziehen.
Damit war ein Konflikt geschaffen, angesichts dessen der französischen Kammer,
abgesehen davon, daß niemand Lust haben mochte, in einem diplomatisch derartig
bedenklichen Augenblick, als Ministerpräsident einzuspringen, nichts anderes übrig
blieb, als ihre eigene Negierung zu stützen. Blieb aber Briand am Ruder, so
war zum mindesten wieder Zeit gewonnen, was Lloyd George schon an sich liebt.
Der französische Chauvinismus konnte sich abkühlen, das Land die Bedenken
französischer Wirtschaftstheoretiker gegen die Ruhrbesetzung in Ruhe überlegen,
hier und da auch, was die Kommunisten gründlich besorgen, gegen das mili¬
tärische Abenteuer protestieren. Vor allem konnte nun auch ein Druck in der
oberschlesischen Frage benutzt werden, um die Franzosen zum endgültigen Ver¬
zicht auf die Ruhrbesetzung zu bewegen. Lloyd George wird bis zu einem ge¬
wissen Grade in Oberschlesien nachgeben, wenn Briand am Rhein nachgibt. In
dem Augenblick aber, da Deutschland Lloyd George diesen Trumpf eigenmächtig
aus der Hand nimmt, wird diesem jede Möglichkeit, einen mäßigenden Druck auf
Frankreich' auszuüben, geraubt, seine innerpolitische Stellung aber wegen der dann
zu erwartenden Opposition der Morning Post-Kreise vollends so geschwächt, daß
er allen Versuchen Frankreichs, sich zum unumschränkten Herrn Europas zu
machen, tatenlos zusehen muß.

Diese Versuche machen kräftige Fortschritte. Nicht nur ist es der fran-
Mischen Diplomatie gelungen, auch Rumänien der kleinen Entente zu nähern,
Wischer Rumänien und Tschecho-Slowakai ein Defensivabkommen außer gegen
Ungarn auch gegen Rußland zustande zu bringen (in dem Sinne wenigstens, daß
die Tschecho-Slowakei im Konfliktsfalle die Durchfuhr von Kriegsmaterial nach
Rumänien duldet), sondern auch Tschecho-Slowakei und Südslawien sowohl wie
Rumänien in der österreichischen Frage mobil zu machen. Das Selbstbestimmungs-
recht als solches, auf das sich Frankreich in der oberschlesischen Frage nicht oft
genug, mit Argumenten übrigens von zweifelhaftem Wert, berufen kann, wird in
Osterreich, wieder vor den Augen des immer ohnmächtiger werdenden britischen
Bundesgenossen, keck mit Füßen getreten, und "Journal des Tebcits" wagt sogar
den Versuch, das Ergebnis der Abstimmung in Tirol mit der Behauptung zu
verdächtigen, zur Abstimmung seien Anschlußgcgner überhaupt nicht zugelassen
worden. Und nicht genug mit Rumänien, soll auch, wie Leitartikel des "Temps"
beweisen, Italien überredet werden, sich in die Reihe der entschiedenen Anschluß-
gsgner zu stellen. Offenbar nur dazu, daß Frankreich die Möglichkeit bekommt,
mit Hilft eines Sutzessionsstaatenblocks, einer mächtigen Donaukonfoderation,
später auf die lateinische Schwesternation einen geeigneten Druck zur Forderung
seiner Orient- und Mittelmeer-Jnteressen ausüben zu können. ,

Was Italien selbst betrifft, so ist der Ausfall der Kammerwahlen der Re-
gierungspolitik nicht ganz so günstig, wie man offiziell den Anschein zu erwecken
sucht. Wider alles Erwarten haben die Sozialisten, die sich letzt ohnehin, von der
lästigen Rücksichtnahme auf die Kommunisten befreit, besser rühren können, gar
nicht so schlecht abgeschnitten und haben die Popolciri, ebenfalls von Rechts- und
Linksradikalen befreit, noch zugenommen, so daß einem aus Liberal-Demokraten,
Radikalen, Reformsozialistcn, Kombattanten, Nittianern, Nationalisten und Fascisten
sehr bunt gemischten Nationalblock von 278 Stimmen an 260 Gegner, oder, die


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denen sich dann, um bei der neuen Kabinettsbildung nicht ausgeschaltet zu werden,
trotz der Vatikanregelung auch die durch ihre Stimmenzahl ausschlaggebende
Partei der IZntente repudlicaine-clemoLratique angeschlossen hätte, gestürzt wurde.
Dann aber blieb dem neuen Ministerpräsidenten, mochte er nun, wie allgemein
angenommen wurde, Poincars oder, wie einige wollten, Clemenceau heißen, gar
nichts anderes übrig als eben das zu tun, was unterlassen zu haben die Kammer
seinem Vorgänger vorgeworfen hatte: die mobilisierte Jahresklasse l9 in Deutschland
einrücken zu lassen. Diese Gefahr galt es abzuwenden. Lloyd George tat es. indem
er die französische Negierung in einer scheinbar ganz anderen Angelegenheit mit
ungewöhnlicher Schärfe angriff. Damit die Sache grosz genug aufgemacht werden
konnte, antwortete Briand sofort, um sich alsbald neue Diatriben zuzuziehen.
Damit war ein Konflikt geschaffen, angesichts dessen der französischen Kammer,
abgesehen davon, daß niemand Lust haben mochte, in einem diplomatisch derartig
bedenklichen Augenblick, als Ministerpräsident einzuspringen, nichts anderes übrig
blieb, als ihre eigene Negierung zu stützen. Blieb aber Briand am Ruder, so
war zum mindesten wieder Zeit gewonnen, was Lloyd George schon an sich liebt.
Der französische Chauvinismus konnte sich abkühlen, das Land die Bedenken
französischer Wirtschaftstheoretiker gegen die Ruhrbesetzung in Ruhe überlegen,
hier und da auch, was die Kommunisten gründlich besorgen, gegen das mili¬
tärische Abenteuer protestieren. Vor allem konnte nun auch ein Druck in der
oberschlesischen Frage benutzt werden, um die Franzosen zum endgültigen Ver¬
zicht auf die Ruhrbesetzung zu bewegen. Lloyd George wird bis zu einem ge¬
wissen Grade in Oberschlesien nachgeben, wenn Briand am Rhein nachgibt. In
dem Augenblick aber, da Deutschland Lloyd George diesen Trumpf eigenmächtig
aus der Hand nimmt, wird diesem jede Möglichkeit, einen mäßigenden Druck auf
Frankreich' auszuüben, geraubt, seine innerpolitische Stellung aber wegen der dann
zu erwartenden Opposition der Morning Post-Kreise vollends so geschwächt, daß
er allen Versuchen Frankreichs, sich zum unumschränkten Herrn Europas zu
machen, tatenlos zusehen muß.

Diese Versuche machen kräftige Fortschritte. Nicht nur ist es der fran-
Mischen Diplomatie gelungen, auch Rumänien der kleinen Entente zu nähern,
Wischer Rumänien und Tschecho-Slowakai ein Defensivabkommen außer gegen
Ungarn auch gegen Rußland zustande zu bringen (in dem Sinne wenigstens, daß
die Tschecho-Slowakei im Konfliktsfalle die Durchfuhr von Kriegsmaterial nach
Rumänien duldet), sondern auch Tschecho-Slowakei und Südslawien sowohl wie
Rumänien in der österreichischen Frage mobil zu machen. Das Selbstbestimmungs-
recht als solches, auf das sich Frankreich in der oberschlesischen Frage nicht oft
genug, mit Argumenten übrigens von zweifelhaftem Wert, berufen kann, wird in
Osterreich, wieder vor den Augen des immer ohnmächtiger werdenden britischen
Bundesgenossen, keck mit Füßen getreten, und „Journal des Tebcits" wagt sogar
den Versuch, das Ergebnis der Abstimmung in Tirol mit der Behauptung zu
verdächtigen, zur Abstimmung seien Anschlußgcgner überhaupt nicht zugelassen
worden. Und nicht genug mit Rumänien, soll auch, wie Leitartikel des „Temps"
beweisen, Italien überredet werden, sich in die Reihe der entschiedenen Anschluß-
gsgner zu stellen. Offenbar nur dazu, daß Frankreich die Möglichkeit bekommt,
mit Hilft eines Sutzessionsstaatenblocks, einer mächtigen Donaukonfoderation,
später auf die lateinische Schwesternation einen geeigneten Druck zur Forderung
seiner Orient- und Mittelmeer-Jnteressen ausüben zu können. ,

Was Italien selbst betrifft, so ist der Ausfall der Kammerwahlen der Re-
gierungspolitik nicht ganz so günstig, wie man offiziell den Anschein zu erwecken
sucht. Wider alles Erwarten haben die Sozialisten, die sich letzt ohnehin, von der
lästigen Rücksichtnahme auf die Kommunisten befreit, besser rühren können, gar
nicht so schlecht abgeschnitten und haben die Popolciri, ebenfalls von Rechts- und
Linksradikalen befreit, noch zugenommen, so daß einem aus Liberal-Demokraten,
Radikalen, Reformsozialistcn, Kombattanten, Nittianern, Nationalisten und Fascisten
sehr bunt gemischten Nationalblock von 278 Stimmen an 260 Gegner, oder, die


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[0253] IVcltspiegel denen sich dann, um bei der neuen Kabinettsbildung nicht ausgeschaltet zu werden, trotz der Vatikanregelung auch die durch ihre Stimmenzahl ausschlaggebende Partei der IZntente repudlicaine-clemoLratique angeschlossen hätte, gestürzt wurde. Dann aber blieb dem neuen Ministerpräsidenten, mochte er nun, wie allgemein angenommen wurde, Poincars oder, wie einige wollten, Clemenceau heißen, gar nichts anderes übrig als eben das zu tun, was unterlassen zu haben die Kammer seinem Vorgänger vorgeworfen hatte: die mobilisierte Jahresklasse l9 in Deutschland einrücken zu lassen. Diese Gefahr galt es abzuwenden. Lloyd George tat es. indem er die französische Negierung in einer scheinbar ganz anderen Angelegenheit mit ungewöhnlicher Schärfe angriff. Damit die Sache grosz genug aufgemacht werden konnte, antwortete Briand sofort, um sich alsbald neue Diatriben zuzuziehen. Damit war ein Konflikt geschaffen, angesichts dessen der französischen Kammer, abgesehen davon, daß niemand Lust haben mochte, in einem diplomatisch derartig bedenklichen Augenblick, als Ministerpräsident einzuspringen, nichts anderes übrig blieb, als ihre eigene Negierung zu stützen. Blieb aber Briand am Ruder, so war zum mindesten wieder Zeit gewonnen, was Lloyd George schon an sich liebt. Der französische Chauvinismus konnte sich abkühlen, das Land die Bedenken französischer Wirtschaftstheoretiker gegen die Ruhrbesetzung in Ruhe überlegen, hier und da auch, was die Kommunisten gründlich besorgen, gegen das mili¬ tärische Abenteuer protestieren. Vor allem konnte nun auch ein Druck in der oberschlesischen Frage benutzt werden, um die Franzosen zum endgültigen Ver¬ zicht auf die Ruhrbesetzung zu bewegen. Lloyd George wird bis zu einem ge¬ wissen Grade in Oberschlesien nachgeben, wenn Briand am Rhein nachgibt. In dem Augenblick aber, da Deutschland Lloyd George diesen Trumpf eigenmächtig aus der Hand nimmt, wird diesem jede Möglichkeit, einen mäßigenden Druck auf Frankreich' auszuüben, geraubt, seine innerpolitische Stellung aber wegen der dann zu erwartenden Opposition der Morning Post-Kreise vollends so geschwächt, daß er allen Versuchen Frankreichs, sich zum unumschränkten Herrn Europas zu machen, tatenlos zusehen muß. Diese Versuche machen kräftige Fortschritte. Nicht nur ist es der fran- Mischen Diplomatie gelungen, auch Rumänien der kleinen Entente zu nähern, Wischer Rumänien und Tschecho-Slowakai ein Defensivabkommen außer gegen Ungarn auch gegen Rußland zustande zu bringen (in dem Sinne wenigstens, daß die Tschecho-Slowakei im Konfliktsfalle die Durchfuhr von Kriegsmaterial nach Rumänien duldet), sondern auch Tschecho-Slowakei und Südslawien sowohl wie Rumänien in der österreichischen Frage mobil zu machen. Das Selbstbestimmungs- recht als solches, auf das sich Frankreich in der oberschlesischen Frage nicht oft genug, mit Argumenten übrigens von zweifelhaftem Wert, berufen kann, wird in Osterreich, wieder vor den Augen des immer ohnmächtiger werdenden britischen Bundesgenossen, keck mit Füßen getreten, und „Journal des Tebcits" wagt sogar den Versuch, das Ergebnis der Abstimmung in Tirol mit der Behauptung zu verdächtigen, zur Abstimmung seien Anschlußgcgner überhaupt nicht zugelassen worden. Und nicht genug mit Rumänien, soll auch, wie Leitartikel des „Temps" beweisen, Italien überredet werden, sich in die Reihe der entschiedenen Anschluß- gsgner zu stellen. Offenbar nur dazu, daß Frankreich die Möglichkeit bekommt, mit Hilft eines Sutzessionsstaatenblocks, einer mächtigen Donaukonfoderation, später auf die lateinische Schwesternation einen geeigneten Druck zur Forderung seiner Orient- und Mittelmeer-Jnteressen ausüben zu können. , Was Italien selbst betrifft, so ist der Ausfall der Kammerwahlen der Re- gierungspolitik nicht ganz so günstig, wie man offiziell den Anschein zu erwecken sucht. Wider alles Erwarten haben die Sozialisten, die sich letzt ohnehin, von der lästigen Rücksichtnahme auf die Kommunisten befreit, besser rühren können, gar nicht so schlecht abgeschnitten und haben die Popolciri, ebenfalls von Rechts- und Linksradikalen befreit, noch zugenommen, so daß einem aus Liberal-Demokraten, Radikalen, Reformsozialistcn, Kombattanten, Nittianern, Nationalisten und Fascisten sehr bunt gemischten Nationalblock von 278 Stimmen an 260 Gegner, oder, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/253>, abgerufen am 23.11.2024.