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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

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Weltspiegel

Frankreich bedeutet, braucht nicht ausführlich auseinandergesetzt zu werden, und
ebensowenig, daß eine derartige Umstellung in einem von den Folgen des Krieges
schwer heimgesuchten Lande nicht von heute auf morgen möglich ist. Mit Sicher¬
heit aber kann man sagen, daß die Umkehr bereits begonnen hat.

Praktisch verdichtet sich das Problem zu der Frage nach der Kriegs¬
entschädigung (um die "Reparationen" beim rechten Namen zu nennen). Es lüge
sehr einfach, wenn Deutschland zahlungsfähig wäre. Es scheint unmöglich zu
lösen, da dies alles nur in sehr beschränktem Maße der Fall ist und den ver¬
bleibenden Nest niemand tragen will und kann. Da eine Geldleistung nicht
möglich war, ist man auf den Ausweg der Naturallieferung verfallen. Aber
erstens werden dadurch die schon jetzt empfindlichen und weder durch Steuern noch
durch Anleihen zu deckenden Lücken im französischen Staatshaushalt nicht unmittelbar
ausgefüllt, und zweitens müßte, um wirklich großzügige Naturalleistungen Deutsch¬
lands zu erlangen, die deutsche Industrie in einem Umfange entwickelt werden,
den aus Furcht vor der deutschen Konkurrenz weder Frankreich noch vor allem
England, das zu ihrer Bekämpfung den Krieg begann, nicht wünschen können.
Also ist man zu einem kombinierten Verfahren, Bar- und Naturalleistungen,
gelangt. Nun aber erhebt sich die andere Schwierigkeit: die Fixierung des
Gesamtbetrages.

Diese Fixierung ist, um es kurz zu sagen, innerpolitisch für Frankreich
unmöglich, wirtschaftlich für Deutschland unentbehrlich. Es rächt sich jetzt, daß
Frankreich während der Friedensverhandlungen nicht kühles Blut behielt, und
daß man auch in England den Sieg parteipolitisch auszuschlachten suchte. Damals
hätte es vielleicht gelingen können, eine internationale Anleihe zur Tilgung der
Ä'riegsausgaben zustande zu bringen. Aber damals klang es einstimmig von
beiden Ufern des Kanals her: Deutschland zahlt alles. Jetzt hat man sich in
England bereits darauf eingerichtet, daß Deutschland (nach Ablieferung von Flotte
und Kolonien, nachdem also England den Löwenanteil der sofort realisierbaren
Siegesbeute für sich genommen hatte) eben nicht alles zahlt. Anders in Frank¬
reich. Es gab "Realpolitiker", die das linke Rheinufer annektieren, Ost- und
Westpreußen sowie Oberschlesien an Polen geben und somit "klare Verhältnisse"
schaffen wollten. Da aber Frankreich den Krieg nicht allein und sehr wesentlich
doch unter dem Banner des Selbstbestimmungsrechts der Völker und dessen, was
man in Frankreich heute den "Wilsonismus" nennt, gewonnen hatte, wurde eine
solche Lösung, die besonders den englischen Gleichgewichtsinteressen widersprach,
abgelehnt. Man mußte zum Kompromiß greifen: zur finanziellen Kriegsentschädi¬
gung. Es zeigte sich jedoch, daß reale Unterlagen für ein Kompromiß nicht vor¬
handen waren. Frankreich wollte "alles" ersetzt haben, Deutschland konnte
"nichts" zahlen. Letzteres gab man auch in Frankreich zu. Da man aber weder
verzichten wollte noch konnte, so mußte man eben den Kriegszustand künstlich
verlängern. Tatsächlich ist der Versailler "Bertrag" in wesentlichen Teilen nichts
anderes als eine Proklamierung dieses verlängerten Kriegszustandes, ja man will
diesen Zustand verschärfen, indem man auch jetzt noch eine vertragsmäßige
Fixierung hinauszuschieben sucht. Man kann, das hat man jenseits des Rheins
bereits eingesehen, nicht alles bekommen, was man braucht, aber man will doch
so viel nehmen, wie man irgend bekommen kann. Die gegenwärtige Zahlungs¬
unfähigkeit Deutschlands wird, so argumentiert man, falls sie überhaupt besteht,
nicht ewig dauern. Was wir jetzt nicht haben können, können wir später nehmen.
Und deshalb will man auch die Gesamtsumme nicht nennen. Angenommen, sie
fällt sehr hoch aus, so wird man, da die Entwicklung wirtschaftlicher Verhältnisse
sich nur höchst unvollkommen übersehen laßt und bei dem gegenwärtigen Zustand
Deutschlands eine hohe Entschädigung als unmöglich erscheint, bei Neutralen und
Alliierten, womöglich auch im eigenen Lande den Kopf schütteln und die Regierung
des UtopiSmus beschuldigen. Angenommen sie fällt niedrig aus, so erhebt sich in
Frankreich sofort die Frage: Wer trägt das Defizit? Und wer will die Verant¬
wortung übernehmen, wenn etwa Deutschland sich Wider Erwarten doch erholt


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Frankreich bedeutet, braucht nicht ausführlich auseinandergesetzt zu werden, und
ebensowenig, daß eine derartige Umstellung in einem von den Folgen des Krieges
schwer heimgesuchten Lande nicht von heute auf morgen möglich ist. Mit Sicher¬
heit aber kann man sagen, daß die Umkehr bereits begonnen hat.

Praktisch verdichtet sich das Problem zu der Frage nach der Kriegs¬
entschädigung (um die „Reparationen" beim rechten Namen zu nennen). Es lüge
sehr einfach, wenn Deutschland zahlungsfähig wäre. Es scheint unmöglich zu
lösen, da dies alles nur in sehr beschränktem Maße der Fall ist und den ver¬
bleibenden Nest niemand tragen will und kann. Da eine Geldleistung nicht
möglich war, ist man auf den Ausweg der Naturallieferung verfallen. Aber
erstens werden dadurch die schon jetzt empfindlichen und weder durch Steuern noch
durch Anleihen zu deckenden Lücken im französischen Staatshaushalt nicht unmittelbar
ausgefüllt, und zweitens müßte, um wirklich großzügige Naturalleistungen Deutsch¬
lands zu erlangen, die deutsche Industrie in einem Umfange entwickelt werden,
den aus Furcht vor der deutschen Konkurrenz weder Frankreich noch vor allem
England, das zu ihrer Bekämpfung den Krieg begann, nicht wünschen können.
Also ist man zu einem kombinierten Verfahren, Bar- und Naturalleistungen,
gelangt. Nun aber erhebt sich die andere Schwierigkeit: die Fixierung des
Gesamtbetrages.

Diese Fixierung ist, um es kurz zu sagen, innerpolitisch für Frankreich
unmöglich, wirtschaftlich für Deutschland unentbehrlich. Es rächt sich jetzt, daß
Frankreich während der Friedensverhandlungen nicht kühles Blut behielt, und
daß man auch in England den Sieg parteipolitisch auszuschlachten suchte. Damals
hätte es vielleicht gelingen können, eine internationale Anleihe zur Tilgung der
Ä'riegsausgaben zustande zu bringen. Aber damals klang es einstimmig von
beiden Ufern des Kanals her: Deutschland zahlt alles. Jetzt hat man sich in
England bereits darauf eingerichtet, daß Deutschland (nach Ablieferung von Flotte
und Kolonien, nachdem also England den Löwenanteil der sofort realisierbaren
Siegesbeute für sich genommen hatte) eben nicht alles zahlt. Anders in Frank¬
reich. Es gab „Realpolitiker", die das linke Rheinufer annektieren, Ost- und
Westpreußen sowie Oberschlesien an Polen geben und somit „klare Verhältnisse"
schaffen wollten. Da aber Frankreich den Krieg nicht allein und sehr wesentlich
doch unter dem Banner des Selbstbestimmungsrechts der Völker und dessen, was
man in Frankreich heute den „Wilsonismus" nennt, gewonnen hatte, wurde eine
solche Lösung, die besonders den englischen Gleichgewichtsinteressen widersprach,
abgelehnt. Man mußte zum Kompromiß greifen: zur finanziellen Kriegsentschädi¬
gung. Es zeigte sich jedoch, daß reale Unterlagen für ein Kompromiß nicht vor¬
handen waren. Frankreich wollte „alles" ersetzt haben, Deutschland konnte
„nichts" zahlen. Letzteres gab man auch in Frankreich zu. Da man aber weder
verzichten wollte noch konnte, so mußte man eben den Kriegszustand künstlich
verlängern. Tatsächlich ist der Versailler „Bertrag" in wesentlichen Teilen nichts
anderes als eine Proklamierung dieses verlängerten Kriegszustandes, ja man will
diesen Zustand verschärfen, indem man auch jetzt noch eine vertragsmäßige
Fixierung hinauszuschieben sucht. Man kann, das hat man jenseits des Rheins
bereits eingesehen, nicht alles bekommen, was man braucht, aber man will doch
so viel nehmen, wie man irgend bekommen kann. Die gegenwärtige Zahlungs¬
unfähigkeit Deutschlands wird, so argumentiert man, falls sie überhaupt besteht,
nicht ewig dauern. Was wir jetzt nicht haben können, können wir später nehmen.
Und deshalb will man auch die Gesamtsumme nicht nennen. Angenommen, sie
fällt sehr hoch aus, so wird man, da die Entwicklung wirtschaftlicher Verhältnisse
sich nur höchst unvollkommen übersehen laßt und bei dem gegenwärtigen Zustand
Deutschlands eine hohe Entschädigung als unmöglich erscheint, bei Neutralen und
Alliierten, womöglich auch im eigenen Lande den Kopf schütteln und die Regierung
des UtopiSmus beschuldigen. Angenommen sie fällt niedrig aus, so erhebt sich in
Frankreich sofort die Frage: Wer trägt das Defizit? Und wer will die Verant¬
wortung übernehmen, wenn etwa Deutschland sich Wider Erwarten doch erholt


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[0136] Weltspiegel Frankreich bedeutet, braucht nicht ausführlich auseinandergesetzt zu werden, und ebensowenig, daß eine derartige Umstellung in einem von den Folgen des Krieges schwer heimgesuchten Lande nicht von heute auf morgen möglich ist. Mit Sicher¬ heit aber kann man sagen, daß die Umkehr bereits begonnen hat. Praktisch verdichtet sich das Problem zu der Frage nach der Kriegs¬ entschädigung (um die „Reparationen" beim rechten Namen zu nennen). Es lüge sehr einfach, wenn Deutschland zahlungsfähig wäre. Es scheint unmöglich zu lösen, da dies alles nur in sehr beschränktem Maße der Fall ist und den ver¬ bleibenden Nest niemand tragen will und kann. Da eine Geldleistung nicht möglich war, ist man auf den Ausweg der Naturallieferung verfallen. Aber erstens werden dadurch die schon jetzt empfindlichen und weder durch Steuern noch durch Anleihen zu deckenden Lücken im französischen Staatshaushalt nicht unmittelbar ausgefüllt, und zweitens müßte, um wirklich großzügige Naturalleistungen Deutsch¬ lands zu erlangen, die deutsche Industrie in einem Umfange entwickelt werden, den aus Furcht vor der deutschen Konkurrenz weder Frankreich noch vor allem England, das zu ihrer Bekämpfung den Krieg begann, nicht wünschen können. Also ist man zu einem kombinierten Verfahren, Bar- und Naturalleistungen, gelangt. Nun aber erhebt sich die andere Schwierigkeit: die Fixierung des Gesamtbetrages. Diese Fixierung ist, um es kurz zu sagen, innerpolitisch für Frankreich unmöglich, wirtschaftlich für Deutschland unentbehrlich. Es rächt sich jetzt, daß Frankreich während der Friedensverhandlungen nicht kühles Blut behielt, und daß man auch in England den Sieg parteipolitisch auszuschlachten suchte. Damals hätte es vielleicht gelingen können, eine internationale Anleihe zur Tilgung der Ä'riegsausgaben zustande zu bringen. Aber damals klang es einstimmig von beiden Ufern des Kanals her: Deutschland zahlt alles. Jetzt hat man sich in England bereits darauf eingerichtet, daß Deutschland (nach Ablieferung von Flotte und Kolonien, nachdem also England den Löwenanteil der sofort realisierbaren Siegesbeute für sich genommen hatte) eben nicht alles zahlt. Anders in Frank¬ reich. Es gab „Realpolitiker", die das linke Rheinufer annektieren, Ost- und Westpreußen sowie Oberschlesien an Polen geben und somit „klare Verhältnisse" schaffen wollten. Da aber Frankreich den Krieg nicht allein und sehr wesentlich doch unter dem Banner des Selbstbestimmungsrechts der Völker und dessen, was man in Frankreich heute den „Wilsonismus" nennt, gewonnen hatte, wurde eine solche Lösung, die besonders den englischen Gleichgewichtsinteressen widersprach, abgelehnt. Man mußte zum Kompromiß greifen: zur finanziellen Kriegsentschädi¬ gung. Es zeigte sich jedoch, daß reale Unterlagen für ein Kompromiß nicht vor¬ handen waren. Frankreich wollte „alles" ersetzt haben, Deutschland konnte „nichts" zahlen. Letzteres gab man auch in Frankreich zu. Da man aber weder verzichten wollte noch konnte, so mußte man eben den Kriegszustand künstlich verlängern. Tatsächlich ist der Versailler „Bertrag" in wesentlichen Teilen nichts anderes als eine Proklamierung dieses verlängerten Kriegszustandes, ja man will diesen Zustand verschärfen, indem man auch jetzt noch eine vertragsmäßige Fixierung hinauszuschieben sucht. Man kann, das hat man jenseits des Rheins bereits eingesehen, nicht alles bekommen, was man braucht, aber man will doch so viel nehmen, wie man irgend bekommen kann. Die gegenwärtige Zahlungs¬ unfähigkeit Deutschlands wird, so argumentiert man, falls sie überhaupt besteht, nicht ewig dauern. Was wir jetzt nicht haben können, können wir später nehmen. Und deshalb will man auch die Gesamtsumme nicht nennen. Angenommen, sie fällt sehr hoch aus, so wird man, da die Entwicklung wirtschaftlicher Verhältnisse sich nur höchst unvollkommen übersehen laßt und bei dem gegenwärtigen Zustand Deutschlands eine hohe Entschädigung als unmöglich erscheint, bei Neutralen und Alliierten, womöglich auch im eigenen Lande den Kopf schütteln und die Regierung des UtopiSmus beschuldigen. Angenommen sie fällt niedrig aus, so erhebt sich in Frankreich sofort die Frage: Wer trägt das Defizit? Und wer will die Verant¬ wortung übernehmen, wenn etwa Deutschland sich Wider Erwarten doch erholt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/136>, abgerufen am 24.07.2024.